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Interview mit Alexander Pereira "Die Mailänder Scala hat manchmal hohes Fieber"

Wie jedes Jahr wird am 7. Dezember mit Spannung die Saisoneröffnung der Mailänder Scala erwartet. Für die Premiere von Giuseppe Verdis "Giovanna d'Arco" hat Intendant Alexander Pereira Anna Netrebko und Riccardo Chailly ans Haus geholt. Über seine Arbeit an der berühmtesten Oper der Welt spricht Pereira im BR-KLASSIK-Interview.

Innenraum der Mailänder Scala | Bildquelle: Teatro alla Scala / Paola Primavera

Bildquelle: Teatro alla Scala / Paola Primavera

BR-KLASSIK: Herr Pereira, seit letztem Jahr leiten Sie die Geschicke der Mailänder Scala. Ist das eine Traumstelle, so wie es von außen erscheint?

Alexander Pereira: Es ist natürlich das berühmteste Opernhaus der Welt, und wenn wir jetzt über den 7. Dezember sprechen, ist es die berühmteste Opernpremiere der Welt. Aber letztlich ist das Entscheidende, dass man es schafft, eine Normalität herzustellen, dass es ein Theater ist, das auch in einer anderen Stadt eine Premiere feiern könnte. Aufgrund seiner Tradition lastet ein großer Druck auf diesem Haus: Seit 1778 haben alle großen Komponisten dort Opern herausgebracht, dirigiert, gewirkt. Das Wichtigste ist, dass man Ruhe und Geduld in das Haus hineinbringt, das von einer unglaublichen Qualität und einem ganz großen Talent erfüllt ist. Auf der einen Seite steht enormes Talent, auf der anderen das dazugehörige Vermögen.

BR-KLASSIK: Sie sagen "Ruhe in das Haus bringen". Fehlt die Ruhe bisher noch? Es gab ja doch einige Querelen vor ihrer Amtszeit.

Alexander Pereira: Das hat mit den Querelen vor meiner Amtszeit nichts zu tun. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Scala ist ein Theater, das immer zumindest erhöhte Temperatur hat und manchmal hohes Fieber. Und die Rezepte zu finden, um es auf rund 37° zu bringen, ist das Geheimnis.

BR-KLASSIK: Nun sind Sie ein ausgesprochen erfahrener Theatermann: Sie waren 20 Jahre Intendant des Zürcher Opernhaus und haben drei Jahre lang die Salzburger Festspiele geleitet. Geografisch sind Zürich, Salzburg und Mailand nicht weit voneinander entfernt. Inwieweit sind diese Leuchtturminstitutionen denn inhaltlich miteinander vergleichbar?

Intendant Alexander Pereira | Bildquelle: picture-alliance/dpa Alexander Peirera leitet seit 2014 die Mailänder Scala. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Alexander Pereira: Die Mailänder Scala ist eher mit Salzburg als mit dem Zürcher Opernhaus vergleichbar, weil das Zürcher Opernhaus ein klassisches sogenanntes Ensemble- und Repertoiretheater ist, welches jeden Tag mehr oder weniger ein anderes Stück spielt und möglicherweise in der Woche fünf, sechs Opern präsentiert. Salzburg und Mailand hingegen spielen in ihrem Programm gewissermaßen ein oder zwei Stücke. Man bereitet immer eins vor, spielt davon sieben oder acht Vorstellungen und bereitet dazwischen das nächste vor. Man spielt also in Mailand, sagen wir, 15 Opern im Jahr und in Zürich 35 Opern. Dieses "Stagione"-System ist das klassische Kennzeichen der Mailänder Scala.

BR-KLASSIK: Was sind denn die Vor- und Nachteile eines solchen "Stagione"-Prinzips für Sie?

Alexander Pereira: Im Ensemble- und Repertoirebetrieb kann man konsequent Nachwuchsförderung betreiben. Es ist mein Traum, in Mailand ein ganz kleines Ensemble von zehn, zwölf Sängern zu haben, die in der Zukunft heranwachsen müssen und betreut werden. Der Nachteil des "Stagione"-Systems ist, dass die Leute nur dann engagiert werden, wenn sie gebraucht werden. Sie werden nicht wirklich permanent betreut. Im Ensemble- und Repertoiretheater in Zürich konnte ich einen jungen Sänger  zu Lehrern schicken und schauen, dass er sich weiterentwickelt, wenn ich das Gefühl hatte, er braucht jetzt ein Jahr Entwicklungszeit. Es ist natürlich so, dass die Scala als einziges Haus auf der Welt etwas hat, was niemand anderes hat, nämlich eine Akademie. In dieser Akademie studieren 1250 Studenten, das heißt, es ist eigentlich eine Art Konservatorium, aber mit einem riesigem Vorteil: Wenn ein junger Sänger gewissermaßen einen Abschluss macht, dann macht er ihn innerhalb des Theaters und ist damit in der Lage, direkter an eine zukünftige Karriere anzuschließen.

BR-KLASSIK: Wie finanziert sich denn eine solche Akademie?

Alexander Pereira: Das Gesamtbudget beträgt etwa 6,5 Millionen Euro im Jahr. Sie wird teilweise durch Studiengebühren, Sponsorenzuwendungen uns hauptsächlich aus dem Budget der Mailänder Scala finanziert.

BR-KLASSIK: Nun haben Sie natürlich auch weltweit bekannte Künstler am Haus. Anna Netrebko, die in der "Giovanna d’Arco" singen wird oder Placido Domingo in "I due foscari". Wie wichtig sind solche Stars für das Mailänder Publikum?

Alexander Pereira: Die Frage ist, wie gut oder bedeutend diese Künstler für die einzelnen Rollen sind, die sie zu verwirklichen haben. Anna Netrebko ist für mich eine der allergrößten Sopranistinnen der Welt. Ich habe ja in Salzburg zwei konzertante Aufführungen gemacht. Den Triumph dort vergess ich nicht so schnell und jetzt hoffen wir natürlich, dass Anna Netrebko die Idealbesetzung für diese unglaubliche Persönlichkeit ist, die die Giovanna braucht, um faszinierend zu wirken. Es tritt der unglaubliche Fall ein, dass dieses Stück genau 150 Jahre in der Mailänder Scala nicht gespielt worden ist, obwohl es vor 170 Jahren dort uraufgeführt wurde. Es ist also ein Heimatstück, diese "Giovanna d’Arco". Das Stück ist ja zwischen "Nabucco" und "La Traviata" entstanden. Als Riccardo Chailly geprobt hat , hat er dem Orchester gesagt: "Achtung! Jetzt kommt Il trovatore! Jetzt kommt La traviata, Don Carlos, ein Zitat aus Aida!" Das heißt, dieses Stück ist ein Nukleus an Einfällen Giuseppe Verdis in dieser Zeit, und diese Einfälle hat er dann in den vielen anderen Meisterwerken, die er produziert hat, immer wieder einfließen lassen. Das hat auch das Orchester ganz besonders überzeugt, als es dieses Stück erarbeitet hat.

BR-KLASSIK: Alexander Pereira, beschreiben Sie uns doch das Mailänder Publikum! Wie offen sind die Norditaliener für Neues für Experimentelles? Wie sehr hängen Sie an der Tradition?

Alexander Pereira: Es gibt ja eine große Tradition für Neue Musik von Luciana Pestalozza, der Schwester von Claudio Abbado und von Claudio Abbado selbst initiiert. Er ist Anfang der Achtziger, als ich ins Konzerthaus gewählt worden bin, zu mir gekommen und hat gesagt: "Wir müssen unbedingt ein Festival für Neue Musik in Wien machen!" In Wien war das Konzerthaus immer die avantgardistischere Institution. Damals haben wir dieses Festival "Wien Modern" aus der Taufe gehoben. Aber es basiert auf einer Mailänder Idee, und noch heute gibt es dieses Festival "Milano Musical", zu dem die Scala auch jedes Jahr ein zeitgenössisches Werk beiträgt. Wir haben im Januar die Soldaten gemacht, mit ausgezeichnetem Erfolg und sehr gutem Publikumszuspruch. Wir haben die Uraufführung von Battistelli gemacht. "CO2", diese Ambiente-Oper im Zusammenhang mit den Themen der Expo:  Ernährung und Erhaltung der Umwelt. Beide Aufführungen haben Interesse gefunden. Ich glaube, dass die Mailänder absolut offen sind für neue Entwicklungen. Schwieriger zu überzeugen sind sie bei Neuinszenierungen der traditionellen Stücke. Da kommt wieder das Argument: "Das ist bei uns entstanden und wir wissen genau, wie es gemacht werden soll!" Da ist vielleicht das Publikum etwas weniger abenteuerlustig. Dafür hatte das Publikum den Vorteil, dass es manche Exzesse des Regietheaters nicht mitmachen musste. Andererseits hat aber das Regietheater dem Publikum im Norden Italiens die Augen geöffnet und es für riskantere Interpretationen bereit gemacht. Diese Entwicklung hat wiederum hier nicht stattgefunden, also hat das Mailänder Publikum ein gewisses Nachholbedürfnis.

BR-KLASSIK: Jetzt haben wir über Neue Musik gesprochen, wie sieht es denn mit Raritäten aus? Sie haben ja zum Beispiel "La cena delle beffe" auf dem Spielplan, ein Werk Umberto Giordanos, den man hier eigentlich nur mit seiner Oper "Andrea Chénier" kennt.  Ist das auch in Mailand einen Rarität oder nähert man sich dem ganz offen?

Alexander Pereira: So wie die "Giovanna d’Arco2 150 Jahre nicht gespielt worden ist, wurde "La cena delle beffe" von Arturo Toscanini 1924 an der Mailänder Scala uraufgeführt und wurde seit dem nie mehr gespielt. Für mich ist das ein absolutes Meisterwerk von Giordano. Es zeigt auch sehr deutlich, wie Komponisten auch Visionäre sind. Als Puccini "La fanciulla del West" schrieb, gab es diese Westernromantik in Amerika noch gar nicht. Das kommt aus den 20er- und 30er Jahren. Puccini war also seiner Zeit voraus. Genauso ist Giordano mit "La cena delle beffe" auch ein bisschen dem ganzen Faschismus der 30er und 40er Jahren voraus und zeigt ein Wetterleuchten, was da passieren kann.

BR-KLASSIK: Alexander Pereira, Ihr Vertrag an der Scala läuft vorerst bis 2020. Was wünschen Sie sich in fünf Jahren? Was mögen die Italiener, was mögen die Mailänder sagen, was sie dann an der Oper geschafft haben?

Alexander Pereira: Da gibt es eine Antwort, die mir eigentlich die Wichtigste ist, unabhängig davon, ob ich gute oder schlechte Aufführungen produziere: Dieses Theater für die ganze Stadt zu öffnen, auch für die Menschen, die normalerweise wenig Berührung mit Oper haben, und vor allem sie den Kindern zu öffnen. Ich habe eine Serie von Kinderopern erfunden und zwar berühmte Opern, die wir auf fünfundsiebzig Minuten reduziere, also auf die Konzentrationsstärke, die ein Fünf- bis Neunjähriger hat. Wir haben mit "La Cenerentola" begonnen und machen jetzt eine auf Italienisch gesungene "Zauberflöte", als Vorbereitung für die deutsche "Zauberflöte" im nächsten September. Diese Idee hat im ersten Jahr 35.000 Kinder und ihre Eltern ins Theater gebracht und wird hoffentlich nochmal ca. 45.000 bis 50.000 in dieser Saison bringen, weil alle Cenerentolas und Zauberflöten ausverkauft sind. Ich möchte erreichen, dass dieses Theater ein Teil des Lebens der Menschen ist und nicht eine Institution, die man mit unendlicher Distanz ehrfurchtsvoll betrachtet. Ich denke, wenn ich weggehe und die Leute sagen: "Der hat die Scala wirklich für die Menschen geöffnet", dann ist das das schönste Kompliment.

BR-KLASSIK: Dann kann ich nur sagen: Buona fortuna, Alexander Pereira, für all ihre Vorhaben in Mailand. Was sagt man eigentlich statt "Toi, Toi, Toi!" wie im Deutschen, wenn man einer Premiere alles Gute wünschen möchte?

Alexander Pereira: In bocca al lupo! Den Kopf in den Rachen des Wolfes zu stecken! Da können Sie gleich wieder das Problem der Scala erkennen: Sie müssen vorher den Wolf gut füttern, damit er nicht zubeißt.

Das Gespräch mit Alexander Pereira führte für BR-KLASSIK Falk Häfner.

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