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Christian Thielemann bei den Salzburger Festspielen "Ich lasse mich auch manchmal verleiten"

Christian Thielemann gilt als ausgeprochener Bruckner-Spezialist. Bei den Salzburger Festspielen dirigiert er jetzt dessen unvollendete 9. Symphonie. Eine Symphonie, die für den Dirigenten gar nicht unbedingt unvollendet ist.

Der Dirigent Christian Thielemann | Bildquelle: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

Bildquelle: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

BR-KLASSIK: Ich habe Sie letztes Jahr in Salzburg mit Bruckners Siebter erleben dürfen und ich muss sagen, es hat mich damals fast aus dem Sitz geblasen – diese klangliche Gewalt, die Sie zusammen mit den Wiener Philharmonikern entwickelt haben, war so faszinierend. Seither frage ich mich: Wie schaffen Sie es, dass Sie diese Spannung vom ersten bis zum letzten Ton – und darüber hinaus – halten können? Ist das vorsätzlich oder ergibt sich das einfach, indem Sie der Partitur folgen?

Christian Thielemann: Das eine interessante Frage. Ich bemühe mich immer schon in der Garderobe, in die Stimmung des Stückes einzutauchen. Wenn man rausgeht, hat das Stück sozusagen bereits innerlich angefangen. Man muss einfach einen inneren Kompass dafür haben, wann Steigerungen zu früh oder zu stark sind. Aber das lernt man. Ich habe das sicherlich auch bei Wagner-Opern gelernt, einfach durch die Ausmaße. Denn schon bei der "Walküre" können Sie sich empfindlich verbrennen. Spätestens im zweiten Akt, der doch immer sehr langwierig zu sein scheint. Und erst recht bei einem ganzen "Ring" … Wenn Sie das auf eine Symphonie projizieren, dann kann man sagen, dass man sich eben gewisse Steigerungen gut zurechtlegen muss. Sie müssen spontan sein und trotzdem kalkulieren. Sie müssen kalkulieren und trotzdem spontan sein.

BR-KLASSIK: Aber Sie müssen natürlich auch Ihr Orchester mitnehmen. Das sind ja um die hundert Leute.

Christian Thielemann: Das Orchester kenne ich und das Orchester kennt mich. Man hofft auf den guten und günstigen Moment, den Kairos. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Das ist auch nicht abrufbar und auch keine automatische Geschichte. Und es liegt vielleicht manchmal auch daran, wie alle disponiert sind. Man kann das nicht planen.

Zweimal Bruckner komplett

BR-KLASSIK: Bruckner ist Ihr Komponist. Sie haben bereits mit den Dresdnern sämtliche Symphonien aufgenommen. Vergangenes Jahr ist diese Aufnahme herausgekommen. Jetzt machen Sie das Ganze mit den Wiener Philharmonikern. Warum so kurz hintereinander die gleichen Werke mit zwei Spitzenorchestern?

Christian Thielemann: Das ist gar nicht so kurz hintereinander. Ich habe vor zwölf Jahren, als ich in Dresden anfing, damit begonnen. Wir haben jedes Jahr einfach eine Symphonie gespielt und haben das sozusagen mitlaufen lassen. Das war gar nicht das Projekt, die alle aufzunehmen. Und diese Aufnahme beinhaltet auch nur neun. Mit den Wienern werden es ja elfeinhalb, weil wir noch zwei extra Sätze dazu aufnehmen. Das ergab sich in Dresden einfach so. Wir meinten anfangs, es wäre ein schöner Usus, jede Spielzeit erst einmal mit Bruckner zu beginnen. Und so ist das dann gekommen – mehr als Zufallsprodukt. Ganz anders mit den Wienern: Da war es von vornherein so geplant.

Bruckners Pakt mit dem lieben Gott

BR-KLASSIK: Die 9. Symphonie, die Sie jetzt in Salzburg gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern machen, ist unvollendet geblieben, obwohl es einige Skizzen für den letzten Satz gibt. Es wird kolportiert, Bruckner habe eine Art Kontrakt mit dem lieben Gott geschlossen, dem er diese Symphonie widmen wollte, und er habe gesagt: Er möge mich so lange leben lassen, dass ich den vierten Satz schaffe. Ansonsten soll das "Te deum" der Schluss werden. Was halten Sie von diesem Gerücht? Und was halten Sie von dieser Lösung?

Christian Thielemann: Die Lösung habe ich selbst mit meinen Dresdnern zu Ostern ausprobiert. Ich wollte das mit dem "Te deum" auch mal machen. Das ist eine gute Lösung, aber keine sehr gute. Die sehr gute ist, die Neunte so stehen zu lassen, wie sie ist. Bruckner hatte vor, im letzten Satz der neunten Sinfonie eine große Fuge oder ein großes Arrangement mit vielen Themen aus vergangenen Symphonien zu schreiben und hatte sich wohl eine kontrapunktische Aufgabe gesetzt, die wahrscheinlich so gut wie unlösbar war. Und darüber ist er dann krank geworden und hat es nicht mehr hinbekommen. Interessant sind die entstandenen Skizzen, die es ja auch als Konzertversion gibt und die komplettiert wurden. Mich lassen die seltsam kalt, speziell nach dem schönen Adagio fehlt da zu viel. Es gibt einen wunderbaren großen Choral, wo man das Gefühl hat: Das ist jetzt doch etwas halbwegs Fertiges. Aber Sie müssen dann so viel Hypothetisches dazutun, dass es kein rundes Bild gibt.

So, wie wir diese Symphonie haben, ist sie schön. Man muss nicht an allem rumzerren.
Christian Thielemann

BR-KLASSIK: Empfinden Sie das tatsächlich als Fragment, als unvollendete Sinfonie?

Christian Thielemann: Eigentlich nicht. Das Komische ist, dass dieser Schluss so ist, dass man denkt: Ich will danach gar nichts mehr hören. Man kann jetzt natürlich argumentieren: Ja, weil eben nichts ist … aber wenn er noch etwas gemacht hätte? Na gut, dann hätte er es aber gemacht und dann hätte er mich überzeugt. Aber vielleicht hat Bruckner auch selber gespürt, dass das Adagio so unglaublich ist, dass er schwer danach etwas dransetzen kann. Ich glaube, da ist sehr viel Spekulation und die Quellenlage ist gar nicht so toll. Also ich finde: So, wie wir diese Symphonie haben, ist sie schön. Man muss auch nicht an allem rumzerren.

Überwältigungsmomente am Pult

BR-KLASSIK: Ich habe eingangs schon von diesen Überwältigungsmomenten gesprochen, die einen als Publikum unter Umständen überkommen. Kennen Sie das auch als Dirigent am Pult? Oder dürfen Sie sich das in dieser Situation gar nicht erlauben?

Christian Thielemann: Jein. Sie werden schon überwältigt von dem, was sich da vor Ihnen im Orchester abspielt. Aber sie müssen bei der ganzen Sache ja immer irgendwie auch noch die Contenance bewahren. Es macht aber auch Spaß, sozusagen ein bisschen neben sich zu stehen und an den Stellschrauben drehen zu können. Man kann das ja auch von Aufführung zu Aufführung verändern, was ich sehr gerne tue. Ich versuche immer, es bei der Probe so einzustellen, dass man merkt: Wir haben auch eine Menge Spielraum. Und wenn ein Orchester eine Menge anbietet, dann lasse ich mich auch manchmal verleiten. Dazu gehört eine Menge gegenseitiges Vertrauen.

BR-KLASSIK: Dann wünsche ich Ihnen, dass Ihnen Ihr Orchester wieder wunderbare Angebote macht!

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