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Kritik – "Haensel und Gretel" in Stuttgart Trip im Wald

Die Welt ist untergegangen und außer Lebkuchen aus Menschenfleisch gibt es nichts mehr zu essen, davon jedoch reichlich: Axel Ranisch zeigt die Märchenoper "Hänsel und Gretel" in Stuttgart als düstere Zukunftsvision, aus der nur noch Drogen-Pilze herausführen. Der Beifall ist groß.

Haensel und Gretel | Bildquelle: Matthias Baus / Staatstheater Stuttgart

Bildquelle: Matthias Baus / Staatstheater Stuttgart

Diese Hexe macht dem Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg alle Ehre, hat sie es doch mindestens zu einem mittelständischen Betrieb gebracht, wenn nicht sogar zu einem Weltkonzern. Den Produktionsanlagen nach zu urteilen, die Ausstatterin Saskia Wunsch entworfen hatte, werden Kinder am Fließband zu Lebkuchen verarbeitet. Alle paar Sekunden fällt ein blutiges Todesopfer oben in den Kamin, und prompt rieseln unten pastellfarbene "Leckerbissen" raus. Ältere können sich dabei gern an den Science-Fiction-Film "Soylent Green" von 1973 erinnert fühlen, deutscher Titel: "Jahr 2022...die überleben wollen". Dort werden ja auch Menschen zu grünen Keksen verarbeitet, und die Erde ist genauso kaputt wie sie der aus Berlin stammende Regisseur Axel Ranisch (38) in seiner Inszenierung von "Hänsel und Gretel" am Staatstheater Stuttgart zeigt.

"Hänsel und Gretel" als Düsterstück

Vom Wald ist nur noch Asche übrig, die Feuer lodern noch, und außer den gruseligen Lebkuchen der Hexe gibt es rein gar nichts mehr zu futtern. Ja, die Kinder können sich aus den Fängen der Großbäckerin befreien, aber nur, um ihren Hunger ersatzweise mit Pilzgiften zu stillen, wobei sich natürlich die Frage stellt, welche Drogen "gesünder" sind, Lebkuchen oder psychoaktive Waldprodukte.

Er mag kein Happy End, teilte Axel Ranisch im Programmheft mit, ihm, der ja auch "Tatort"-Folgen inszeniert hat, reicht es, wenn ein Fünkchen Hoffnung bleibt, das hier allerdings nur noch sehr zögerlich glimmt. Nun wurden über "Hänsel und Gretel" natürlich schon dickleibige Psychoanalysen geschrieben, wonach es in dem berühmten Märchen mal um Essstörungen geht, mal um Eltern-Kind-Konflikte, mal um die Verkrüppelungen der Seele durch Armut und Elend. Der Wald ist ja immer Sinnbild für das Unterbewusste, für die Reise zu verdrängten, nicht aufgearbeiteten Erlebnissen.

Ranisch vermeidet Klischees

So gesehen hat Axel Ranisch auf jeden Fall einen zeitgemäßen Psychotrip abgeliefert und manches überholte Klischee aus der Ära der Romantik vermieden: Die Hexe ist eben kein hässliches Zerrbild am Rande der Gesellschaft, sondern trotz ihres obligatorischen Ritts auf dem Besen eine elegante Führungskraft im stylischen Kostüm. Die Kinder binden die Feger auch nicht mit Reisig, wie zu Zeiten der Brüder Grimm, sondern mit Kabelabfällen. Vielleicht wird nebenan ja Elektroschrott abgewrackt.

Insgesamt eine begeistert beklatschte Premiere mit ganz wenigen Protestrufen. Offenbar haben die meisten diesen Trip weniger als Rauscherlebnis und mehr als Bewusstseinserweiterung verstanden. Wenn es dem Wald hilft.

Sendung: "Allegro" am 7. Januar ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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