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Ukraine – Klassische Musik trotz Krieg Sich nur kurz wie in Friedenszeiten fühlen

Seit einem Jahr wütet der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Der Kriegsalltag beherrscht die Gedanken. Hat Musik da noch einen Platz in den Köpfen der Menschen? Oder kann sie vielleicht hilfreich sein? BR-KLASSIK hat in Kiew nachgefragt.

KYIV, UKRAINE - MARCH 09, 2022 - Kyiv-Classic Orchestra perform during the Free Sky concert in support of the appeal of Ukrainian people and the President of Ukraine to world leaders to close the sky over Ukraine, in Maidan Nezalezhnosti Square, Kyiv, capital of Ukraine Photo by Yevhen Kotenko/Ukrinform/ABACAPRESS.COM | Bildquelle: picture alliance / abaca | Ukrinform/ABACA

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Der Ukrainer Anatoliy Solovianenko hat wenig zu lachen in diesen Tagen. Wenn er aber über den 21. Mai spricht, dann schleicht sich doch ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. Solovianenko ist Künstlerischer Leiter der Oper von Kiew. Und der 21. Mai 2022 war der Tag, an dem sein Haus wieder den Betrieb aufgenommen hat, nach drei Monaten Zwangspause – wegen Krieg. Auf dem Programm stand Rossinis "Barbier von Sevilla". Sie seien etwas besorgt gewesen, ob denn viele Menschen zu solchen Zeiten in die Oper gehen würden.

Jeder sagte mir, dass es sehr wichtig sei, wenigstens für ein paar Stunden in eine andere Sphäre einzutauchen, sich wie in Friedenszeiten zu fühlen.
Anatoliy Solovianenko, Künstlerischer Leiter Oper Kiew

Doch schon nach ein paar Tagen waren alle Eintrittskarten ausverkauft. "In der Pause habe ich Besucher gefragt, warum sie hier sind", erzählt Anatoliy Solovianenko, die Antwort sei im Grunde immer die gleiche gewesen: "Jeder sagte mir, dass es sehr wichtig sei, wenigstens für ein paar Stunden in eine andere Sphäre einzutauchen, sich wie in Friedenszeiten zu fühlen. Etwas für das Herz, die Seele und den Geist zu haben. Etwas Besseres zu erleben als die Realität da draußen."

Trotz Raketenangriffe: Kiewer Konzerthäuser wieder geöffnet

Direktor Oper Kiew | Bildquelle: Marc Dugge Künstlerischer Leiter der Oper von Kiew: Anatoliy Solovianenko. | Bildquelle: Marc Dugge Die Realität von Kiew hat sich neun Monate später nicht grundlegend verändert. Zwar wird die Stadt regelmäßig mit russischen Drohnen und Raketen beschossen, doch die Konzerthäuser haben wieder geöffnet. Vor allem im Osten des Landes wird erbittert gekämpft. Viele Menschen sind in Angst um Freunde und Verwandte – und haben gerade nicht viel Sinn für die schönen Künste. Für andere dagegen ist Musik eine Quelle der Kraft. Das gelte erst recht für die Künstler, so Solovianenko. Sie hätten unter der Schließung sehr gelitten: "Für die Künstler war das eine harte Zeit. Es ist schwer für sie, ohne Kollegen und Publikum auszukommen. Das ist ihr Leben! Außerdem gilt: Wer aus der Übung kommt, kann in einem halben Jahr alles verlieren, woran er über Jahre gearbeitet hat."

Oper Kiew: Vom Sitzplatz in den Bunker

Anatoliy Solovianenko sitzt mit Rollkragenpulli und Cord Sakko an seinem Schreibtisch, an der Wand hinter ihm das Bild seines verstorbenen Vaters, einer der berühmtesten Opernsänger der Ukraine. Auf dem Spielplan stehen derzeit "Figaros Hochzeit", "Madama Butterfly" oder "Carmen". Alles auffallend leichte Werke. Die Welt ist dieser Tage ja auch schon ernst genug. Das gilt auch für einen Opernchef. So kann Solovianenko beispielsweise nicht mehr als 460 Eintrittskarten verkaufen – also gerade mal rund ein Drittel der Plätze. Denn der Luftschutzkeller im Haus bietet nur für 460 Menschen Platz. Dorthin aber müssen die Menschen gehen, wenn Alarm ausgelöst wird. Und dann sind da die Sorgen um die Strom-, Wasser- und Heizungsversorgung: "Das sind die Dinge, über die wir jeden Tag nachdenken – nicht über Puccini, Verdi oder Donizetti. Oder über andere Dinge, um die wir uns in Friedenszeiten gekümmert haben. Wir beten für den Sieg."

Sopranistin Liudmyla Monastyrska kehrte extra nach Kiew zurück

Die Sopranistin Liudmyla Monastyrska in Kiew | Bildquelle: Marc Dugge Sopranistin Liudmyla Monastyrska kehrte nach Kiew zurück. | Bildquelle: Marc Dugge Was es heißt, in Kriegszeiten in der Oper von Kiew aufzutreten, hat Liudmyla Monastyrska erst vor kurzem zu spüren bekommen. Die Opernsängerin war in den ersten Monaten des Krieges außer Landes, sie sang auf Bühnen in aller Welt wie der Met in New York. Mitte Dezember ist sie zurück in Kiew, sie will in der Oper "Nabucco" singen. Die Sopranistin sitzt schon in ihrer Garderobe, als der Opernchef die Vorstellung absagt. Weil es nach einem Raketenangriff kein fließendes Wasser gibt. Monastyrksa nimmt’s gelassen. Sie sei froh, zurück in Kiew zu sein. Die Stadt ist für sie ein Kraftort: "Für mich ist es wichtig, ab und zu hierher zu kommen, hier zu sein, trotz des Beschusses. Diese Erde zu betreten, zu singen und den Menschen positive Energie zu geben. Ich denke, dass alle meine Kollegen, die seit Monaten hier sind, Helden sind. Ich bin sehr glücklich, die Möglichkeit zu haben, hier zu sein und bereue es keine Sekunde."

Nach Kriegsbeginn keine Musik im ukrainischen Radio

Positive Energie will auch Svitalana Halas vermitteln. Halas ist Musikredakteurin bei der Kulturwelle des Ukrainischen Rundfunks. Nach Beginn der russischen Großinvasion war in ihrem Programm keine klassische Musik zu hören, sondern nur Frontberichterstattung. Ab Sommer bekam Svitlana Halas zwischen den Nachrichtensendungen immerhin ein Zwei-Stunden-Fenster für Musik. Genauer: für Anti-Stress-Musik, Klänge zum Entspannen. Als sie wieder mit den Sendungen angefangen haben, hätten sie zunächst bewusst auf fröhliche Musik verzichtet. Doch: "Wir haben bald verstanden, dass wir so nicht weitermachen können. Die Menschen wollen ja nicht nur traurige, schwermütige Musik hören."

Wir werden ja überall gehört: Auch an der Front oder von Menschen, die im Luftschutzkeller sitzen, während ihre Stadt bombardiert wird.
Svitlana Halas, Musikredakteurin beim ukrainischen Radio

Musikredakteurin Svitalana Halas in Kiew | Bildquelle: Marc Dugge Musikredakteurin Svitalana Halas. | Bildquelle: Marc Dugge Jetzt wird das ganze Spektrum gespielt. Außer vielleicht übermäßig heitere, frivole Musik, wie Svitlana Halas erzählt. Der Grund: "Wir werden ja überall gehört: Auch an der Front oder von Menschen, die im Luftschutzkeller sitzen, während ihre Stadt bombardiert wird. Alles andere senden wir. Mit einer Ausnahme: Wir haben komplett auf russische Musik verzichtet." Dafür laufen bei Radio Kultur nun ukrainische Komponistinnen und Komponisten, deren Werke vielen Menschen lange Zeit unbekannt waren. Deren Musik komme gut an, sagt Svitlana Halas.

Russische Komponisten sind im Opernhaus Kiew tabu

Auch im Opernhaus von Kiew sind russische Komponisten gerade tabu. Auch hier setzt die Leitung des Hauses auf Werke aus der Ukraine. Am Freitag, dem Jahrestag der Invasion, werden sie hier "Taras Bulba" aufführen: eine Oper des ukrainischen Komponisten Mykola Lyssenko, die vom Aufstand der Kosaken gegen die Angreifer aus Polen erzählt. Ein historischer Stoff mit Parallelen zum Jetzt. Nur dass der Angreifer heute nicht aus Polen kommt, sondern aus Russland.

Sendung: "Allegro" am 24. Februar 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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