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Komponist Erkki-Sven Tüür wird 60 Jahre alt "Sei wahrhaftig zu dir selbst"

Der Este Erkki-Sven Tüür zählt neben Arvo Pärt zu den bekanntesten Komponisten seiner Heimat. Nach der Öffnung des ehemaligen Ostblocks im Jahr 1989 erlebte der damals 30-Jährige seinen Durchbruch im Westen. In seiner Musik verbindet er barocke Formsprache mit Techniken der amerikanischen Minimal Musik und des Rock. Seit Jahrzehnten führt er auf der Osteseeinsel Hiiumaa ein Dasein als Einsiedler zwischen unberührter Natur und Ruinen.

Erkki-Sven Tüür | Bildquelle: © Wikimedia

Bildquelle: © Wikimedia

Seine Musik lebt von Gegensätzen. Feine, flirrende Klangflächen werden von plötzlich ausbrechenden dynamischen Ballungen und Clustern unterbrochen. Wie in der Komposition "Insula deserta" – Die verlassene Insel –, mit der er 1989 seinen großen Durchbruch hatte. Damals ist das Stück für den 30-jährigen Erkki-Sven Tüür eine Metapher, die zu seiner Heimat Hiiumaa passt. Die estnische Ostseeinsel hat beides: das Faszinosum unberührter Natur, aber auch Spuren des zivilisatorischen Verfalls.

Zwischen Natur und Sperrgebiet

Erkki-Sven Tüür in seinem Arbeitszimmer | Bildquelle: © Erkki-Sven Tüür Erkki-Sven Tüür in seinem Arbeitszimmer | Bildquelle: © Erkki-Sven Tüür Dort, wo Erkki-Sven Tüür wohnt, ganz im Westen der Insel, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks militärisches Sperrgebiet. Hier endete der estnische Teil der Sowjetunion, und hier stehen noch verlassene Ruinen von Wachtürmen. Heute sind die Soldaten weg. Der Komponist betrachtet es als Glück, nun schon die Hälfte seines Lebens in einer anderen Welt zu leben. "Ich habe meinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht. Und ich bereue nichts", sagt er überzeugt und erinnert sich an den plötzlichen Umschwung in der Gesellschaft. "Aufgewachsen bin ich in einem totalitären Regime. Dann habe ich das große Glück gehabt, mit Mitte zwanzig den gewaltlosen Wandel mitzuerleben. Das war noch, bevor es dann tatsächlich zur Erneuerung durch Perestroika und Glasnost kam."

Kampf gegen Konventionen

Die musikalischen Anfänge von Tüür sind Projekte mit Bands. Als Teenager spielt er Flöte und Schlagzeug. Den konventionellen Zugang zur Musik lehnt der Sohn eines Pfarrers und einer Bankangestellten zwar ab, aber das Improvisieren auf dem Klavier macht ihm trotzdem Spaß. Er studiert am Konservatorium in Tallinn, interessiert sich anfangs für die amerikanischen Minimal-Komponisten Steve Reich und Phil Glass, dann für den Avantgardisten György Ligeti.

Der Komponist Erkki-Sven Tüür

  • Der Komponist wurde 1959 in Kärdla auf der estnischen Insel Hiiumaa geboren, wo er bis heute lebt.
  • Sein musikalischer Hintergrund ist vielfältig: 1979 gründete er die Rockgruppe "In Spe", bei der er nicht nur komponiert, sondern auch als Flötist, Keyboarder und Sänger tätig ist.
  • An der "Estonian Academy of Music" in Tallinn studierte er später Komposition bei Lepo Sumera.
  • Er ist fester Bestandteil der Szene für Zeitgenössische Musik in Estland und zählt neben Arno Pärt zu den renommiertesten Komponisten des Landes
  • Unter seinen Auftragswerken ist auch das Streichquartett "Lost Prayers", das er 2012 für den ARD-Musikwettbewerb geschrieben hat.

Auf der Suche nach den richtigen Interpreten

 "Worauf es mir in erster Linie ankommt, ist das akustische Resultat. Wenn mich der Klang nicht überzeugt, dann kann ich damit auch nicht glücklich werden", sagt Erkki-Sven Tüür. Die passenden Interpreten dazu sind ihm wichtig: 2005 komponiert der hagere, einsneunzig große Este sein Doppelkonzert "Noesis" für Klarinette, Violine und Orchester. Die Geschwister Jörg und Carolin Widmann spielten es mit dem Nordic Symphonie Orchestra unter der Leitung von Anu Tali ein. Mit diesen Musikern fühlt sich Tüür verbunden und weiß seine Kompositionen in sicheren Händen: "Sie verstehen, was ich mit meiner Musik meine und was zu tun ist, damit sie so klingt."

Inspiration aus der Umwelt

Ein alter Kahn an der Westküste von Hiiumaa. | Bildquelle: © Ulrich Möller-Arnsberg Ein Kahn an der Westküste von Hiiumaa. | Bildquelle: © Ulrich Möller-Arnsberg Eines von Erkki-Sven Tüürs jüngsten Werken ist ein Konzert für Piccoloflöte und Orchester, in der das tirilierende Soloinstrument am Ende verstummt. Inspiriert wurde es durch ein Ereignis vor der eigenen Haustür seines Bauernhofes auf Hiiumaa: Vor eineinhalb Jahren wurde dort hinter dem Zaun eine gewaltige Waldfläche gerodet. Ein wunderschöner, alter Baumbestand wurde abgeholzt und verschwand vom einen auf den anderen Tag. Nach der Rodung hörten auch die Vögel plötzlich auf zu singen und verließen die Region.

Gib dich nicht einer Mode hin, versuche nicht zu gefallen. Sei wahrhaftig zu dir selbst.
Erkki-Sven Tüür

Bescheiden trotz Erfolg

Bei all seinem Erfolg ist Erkki-Sven Tüür bescheiden geblieben. Und so ist auch sein Rat an junge Komponisten: "Gib dich nicht einer Mode hin, versuche nicht zu gefallen. Sei wahrhaftig zu dir selbst. Und wenn du das schaffst, hast du einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem guten Komponisten getan."

Sendung: Allegro am 16. Oktober 2019 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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