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Kritik: "Höhenrausch" am Gärtnerplatztheater Dünne Luft der Tradition

Ein "Alpenballett" war angekündigt. Choreograph Georg Reischl interessierte sich allerdings weniger für Gämsen, Gipfel und Grate. Stattdessen ging es um Tradition, die uns Menschen mal einengt, mal neue Perspektiven öffnet. Dazu gab es Anton Bruckners Symphonie Nr. 4, die "Romantische" – und die klang wie Lawinenabgänge.

"Höhenrausch" am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Marie Laure-Briane

Bildquelle: Marie Laure-Briane

Die Berge in uns sind ja meist unwegsamer als die Berge vor uns, und beim Besteigen hilft nicht mal Sauerstoff, allenfalls Selbstvertrauen. Wie Alpinisten gern bestätigen werden, ist jede anspruchsvolle Outdoor-Expedition ja letztlich auch immer ein Indoor-Abenteuer, fordern Höchstleistungen in der Wand doch stets eine geistige Kraftanstrengung: Konzentration, Demut, eisernen Willen. Insofern ist der "Höhenrausch", den Choreograph Georg Reischl am Münchner Gärtnerplatztheater zeigte, keine Folklore oder Gebirgstrachtenschau, sondern eine teils irritierende, teils humorvolle Auseinandersetzung mit der Frage, ob uns die Täler nicht längst viel zu eng geworden sind und die Berge den Blick auf die Zukunft verstellen.

Genderneutral zur Bergwanderung

"Höhenrausch" am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Marie Laure-Briane Bildquelle: Marie Laure-Briane Kurz und gut: Georg Reischl stellt die Tradition als solche in Frage, das Schuhplatteln, die Kuhglocken, das Ranggeln und Krampuslaufen. Ist das alles noch zeitgemäß? Nur, wenn der Einzelne sich frei entscheiden kann, so die Botschaft dieses Abends, wenn die Tradition Toleranz miteinschließt, wenn die Berge in uns nicht den Blick auf andere Kulturen verstellen. Deshalb hat Kostümbildner Min Li auch alle Tänzer streng geschlechtsneutral gekleidet: Die Röcke sind so türkisblau wie der Attersee, die floralen Muster so vielfältig wie eine Almwiese im Bergsommer. Doch so vermeintlich touristisch geht es nur am Anfang zu: Der 80-minütige Abend wird immer abstrakter, führt über einen Ringkampf und wild bewegten Krampuslauf im Hiphop-Style zu einem Finale ganz in grau-schwarz, weit weg von jeder Naturidylle.

Postkartenansicht voll Ironie

Von der anfänglichen Postkartenansicht des Wendelsteins, die Bühnenbildner Michael Lindner inspiriert hat, bleibt das Metallgestänge, dass diese Fototapete hält. Georg Reischl lässt sein Ensemble mehr mit den Armen tanzen als mit den Beinen, lässt es lautlos schreien und um den richtigen Weg zwischen rechts und links streiten, aufeinander losgehen, um Nähe buhlen und auf Abstand beharren. Ziemlich anstrengend, diese Bergwanderung, immer auf dem schmalen Grat zwischen Ironie und Freiheitsdrang. Und weil dazu Anton Bruckners vierte Sinfonie erklingt, die "Romantische", mit ihren Hörner-Fanfaren, gehen die Gedanken unweigerlich zurück zu den Bergfilmen der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, in denen ja auch stets tapfere Heldinnen und Helden gegen die Engstirnigkeit ihrer Umgebung kämpften: Seien es die "Geierwally" oder der Südtiroler "Rebell". An den Bergen entzündete sich halt schon immer der Eigensinn, der Widerstandsgeist, das Kraftmeiern.

Bruckner als bedrohliches Tongemälde

"Höhenrausch" am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Marie Laure-Briane Bildquelle: Marie Laure-Briane Großartig, wie das Ensemble sich freikämpft aus dem alpenländischen Poesiealbum. Mancher Zuschauer fragte sich am Ende zwar, was das alles sollte, hatte aber gleichwohl den Eindruck, eine interessante Erfahrung gemacht zu haben. Dirigent Michael Brandstätter hätte Bruckners Sinfonie ruhig etwas weniger martialisch angehen können: Er arbeitete wirklich die bedrohliche Seite dieses Tongemäldes heraus. Das hörte sich an, als ob ständig Lawinen abgingen oder Berge zu Tal stürzten. Dabei war das doch nicht die "Alpensinfonie" von Richard Strauss! Bruckner hatte wohl eher Fachwerk-Romantik im Kopf, deutsches Mittelalter und die Wartburg, nicht etwa die Granittürme der Dolomiten, wie diese musikalische Interpretation nahelegte. Insgesamt ein absolut zeitgemäßes Tanzprojekt über Stock und Stein, das Auf und Ab und den fatalen "Höhenrausch", der in Bürotürmen vermutlich häufiger vorkommt als am Wendelstein.

Sendung: "Allegro" am 2. Juni um 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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