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Kritik – Klavierabend Grigory Sokolov Auch mit 75 ein Faszinosum

Englische Renaissance-Musik trifft auf deutsche Hochromantik. Doch Grigory Sokolov bleibt immer Grigory Sokolov, egal welche Epoche er spielt. Und so zeigt der Pianist beim Konzert in München seine ausdrucksstarke Detailschärfe so eigenwillig wie eh und je. Ein mächtiger, monumentaler Sog entsteht, dem aber ab und an ein paar Anker im Hören ganz gut getan hätten.

Pianist Grigory Sokolov | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Es ist auf eine gewisse Art schon sehr extrem, wie Grigory Sokolov die Bühne betritt. Stur, den Blick gerade aus, marschiert er zum Flügel. Ein kurzes Nicken in beide Richtungen des Publikums, das zum Konzert im Münchner Herkulessaal auch auf der Bühne hinter dem Flügel in zusätzlichen Stuhlreihen platziert wurde. Dann ans Klavier. Keine Geste, keine Zuwendung verschwendet er in irgendeine andere Richtung als zur Musik.

William Byrd vs. Johannes Brahms

Ja, diese Art des Auftretens ist zum Markenzeichen von Sokolov geworden, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feiert. Wie viel Inszenierung da dabei ist, wie viel Gewohnheit und wie viel tatsächlich Charisma ist, das lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr ganz auseinanderhalten. Was dann jedoch musikalisch passiert, hat eben genau dieselbe Konsequenz. Und die überzeugt noch immer ungemein.

In München stellt er Werke des englischen Renaissance-Komponisten William Byrd den vier Balladen von Johannes Brahms, op. 10, und dessen zwei Rhapsodien, op. 79, gegenüber. Sokolov zieht die einzelnen Stücke dieser beiden Komponisten dabei in zwei Blöcken zu jeweils fast attacca gespielten Klangschläuchen zusammen. Und bei William Byrd funktioniert das ausgesprochen gut.

Sokolov bleibt Sokolov

Byrd lebte von 1540 bis 1623, er komponierte seine Tastenwerke dementsprechend für Cembalo, schrieb auch dort schon mit großer Stimmvielfalt und Verzierungslust, wenn auch noch nicht mit der Avanciertheit späterer Polyphonie. Doch Sokolov ist immer Sokolov, egal ob er Renaissance-Musik spielt oder Romantik. Also schöpft er – der sowieso über so ein so großes Arsenal aus pianistischen Ausdrucksmöglichkeiten verfügt – auch bei dieser alten Musik aus dem Vollen.

Es beginnt unendlich weich und süß, ein wunderschönes Legato wie eine frische Frühlingsmusik in den Variationen zum Lied "John come kiss me now". Voller Arpeggien und Triller, die allesamt nicht wie Zierde, sondern erstaunlicherweise wie eine musikalische Notwendigkeit wirken, plätschern diese sich im Tempo steigernden Variationen dahin. Eine pure, vielschichtige Schönheit, die an einem Cembalo natürlich in diesen Farben nie entstehen könnte. Auch in den folgenden, zum Teil dunkleren Stücken, zeigt Sokolov, dass sein großes pianistisches Können vor allem in den Details liegt: virtuose Klangkaskaden, in denen aus Synkopen, Trillern und transparenter Vielstimmigkeit trotzdem eine Klarheit in der Themenführung entsteht.

Sokolov kreiert eine neue, überzeitliche Musik

Trotzdem ist das auch eine seltsame ästhetische Unbestimmtheit. Historisch-informiert ist hier gar nichts. Die Musik, die Byrd für das Cembalo komponiert hat, ist eine völlig andere. Und irgendwo in den 400 Jahren zwischen der englischen Renaissance und der Klaviertechnik des 21. Jahrhunderts entsteht so eine neue, überzeitliche Musik.

Das ist im zweiten Teil auch bei Brahms spürbar. Dessen Kompositionen sind zwar dem modernen Instrument näher als die von Byrd. Doch auch hier geht Sokolov interpretatorisch seinen ganz eigenen Weg. Gräbt sich tief ein in die Details der frühen Balladen, die noch eine gewisse biedermeierliche Hausmusik-Gemütlichkeit in sich tragen und nur Zwischendrin ein Sehnen nach etwas Brüchigerem freilegen. Und geht dann nahtlos über zu den zwei späten Rhapsodien, die all die Komplexität, mit der Brahms dann auch seine Symphonien anging, aufgreifen. Sokolov spielt wieder attacca, wischt in genauester Detailarbeit durch Brahms' ästhetische Entwicklung; über Zeiten und Werkgrenzen hinweg. Es ist ein Sog.

Die wundersame Reise des Grigory Sokolov

Dieses Zusammenziehen der Werke macht die Musik wuchtig, ja monumental. Aber irgendwie fehlen im Hören auch ein bisschen die Anker. Besonders bei Brahms, dessen Musik über die hier gespielten Werke immer komplexer wird. Da hätte ein Atmen, ein Einhaken dazwischen das Ohr auch für die tiefgehende Detailarbeit von Sokolov wieder geschärft. So aber ist das Konzert wie der Blick auf die wundersame Reise eines Menschen, der seine gesamte menschliche Ausdrucksfähigkeit auf die Musik richtet; Aber das ist und bleibt auch ein großes Faszinosum.

Sendung: "Allegro" am 26. Mai 2025 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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