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Kritik – Umjubelter "Werther" in München Traut Euch ins Offene, Freunde!

Was für eine gewagte Mischung: Goethes Briefroman in der Optik eines Schauspiels von Henrik Ibsen mit impressionistischer Musik des Franzosen Jules Massenet, abgeschmeckt mit Romantik. Das funktionierte am Münchner Gärtnerplatztheater hervorragend, der Jubel war groß. Am Donnerstag war Premiere.

Massenets "Werther" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Jean-Marc Turmes

Bildquelle: Jean-Marc Turmes

Kritik

"Werther" am Münchner Gärtnerplatztheater

Eine Tür führt nach nebenan, drei Türen hintereinander führen ins Offene, nach draußen – aber trauen wir uns das zu? Drinnen ist es doch viel übersichtlicher, gemütlicher, ungefährlicher. Wer alle Türen hinter lässt, ist den Elementen ausgeliefert, auch den seelischen Stürmen und Gewittern. Und darum geht es bekanntlich in Goethes "Werther", der vom französischen Komponisten Jules Massenet vertont wurde.

Kein Aufbruch ins Ungewisse

Am Münchner Gärtnerplatztheater wurde die Oper in der Regie von Herbert Föttinger ein hochspannendes und beklemmendes Porträt von Menschen, die die offenen Türen nicht durchschreiten, die nicht ins Ungewisse aufbrechen, statt auf wilde Romantik zu setzen die biedere Konvention wählen. Klar, sie gehen daran zu Grunde, das Drama der bürgerlichen Gesellschaft. Hört sich alles etwas anachronistisch an, schließlich hat Goethe seinen berühmten Briefroman 1774 geschrieben. Doch Herbert Föttinger und Ausstattungsteam Walter Vogelweider (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) verlegten die Handlung in die Entstehungszeit der Oper, also in die Zeit um 1900. Deshalb sieht dieser "Werther" aus wie ein Stück von Henrik Ibsen, doch das funktioniert hervorragend.

Emotionale Vulkanausbrüche

Massenets "Werther" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Jean-Marc Turmes Lucian Krasznec (Werther) und Sophie Rennert (Charlotte) | Bildquelle: Jean-Marc Turmes Wenn sich in dieser verklemmten, aufgeräumten und sterilen Umgebung zwei Menschen die Klamotten vom Leib reißen und auf dem Fußboden übereinander herfallen, dann ist das ein emotionaler Vulkanausbruch, eine Ekstase, die in einem modernen Wohnzimmer eher peinlich wirken würde. So dagegen, in den Kostümen der Belle Epoque, erinnert das alles an die scheinbar deprimierenden Bilder des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi, der am liebsten leere Zimmer mit großen Fenstern und offenen Türen malte – wohlgemerkt ohne Menschen. Die sind unterwegs, wohin auch immer. Vielleicht zu den romantischen Ideallandschaften, die hier an der Wand hängen. Lauter düstere Ausblicke über einsame Gegenden. Und das herabhängende Telefon, das am Ende Trübsal verbreitet, hat offenbar schon lange keinen Anschluss mehr.

Stimmige Inszenierung

Weil Goethe einen Briefroman verfasste, gibt es natürlich vergleichsweise viele Textzitate zu lesen und dankenswerter Weise keine What's App-Nachrichten oder Twitter-Kommentare, sondern tatsächlich noch Liebesgeständnisse auf Papier. Das alles ist in sich wunderbar stimmig, sehr impressionistisch und rührt zu Tränen, denn die hier vorgeführten Nöte mit lauter verpassten Möglichkeiten, die sind zeitlos. Wer trauert nicht um vertane Chancen, wer hat immer den Mut, das Abenteuer zu wählen statt die Sicherheit?

Überzeugendes Sängerteam

Massenets "Werther" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Jean-Marc Turmes Sophie Rennert (Charlotte), Ilia Staple (Sophie, Charlottes kleine Schwester) | Bildquelle: Jean-Marc Turmes Fulminant, wie Lucian Krasznec in der Titelrolle den traurigen Helden gibt. In anderen Rollen wirkt er mitunter zu gehemmt, zu passiv, hier ist dieser Charakterzug ideal. Werther traut sich nicht, er fügt sich. Auch stimmlich ein ganz großer Auftritt, der Krasznec da gelungen ist. Das gilt auch für Sophie Rennert als Charlotte. Beide spielen bedingungslos, geben alles, um diesen schwierigen Sturm-und-Drang-Stoff nicht entgleisen zu lassen. Übrigens sind auch die anderen Solisten, darunter Daniel Gutmann als überraschend charmanter Ehemann Albert und Ilia Staple als quicklebendige Sophie in jeder Hinsicht überzeugend.

Einige Buhs für Dirigent Anthony Bramall

Dirigent Anthony Bramall handelte sich dagegen ein paar wenige, aber vernehmliche Buhrufe ein. Grund dafür: Der Brite entschied sich vor allem vor der Pause für eine arg ruppige, ja hölzerne Lesart der Partitur. Was fehlte, war impressionistische Sensibilität, wo die Noten auch mal zart hingetupft gehören. So ruppig ist eher der Expressionismus, der Jules Massenet zwar nicht völlig fremd war, aber doch einer späteren Epoche angehörte. Wie auch immer: Insgesamt ein fulminanter Abend, der entsprechend bejubelt wurde. Goethe kann's immer noch – und Ibsen sowieso.

Sendung: "Allegro" am 17. Februar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Sonntag, 19.Februar, 00:20 Uhr

Eva Fritz

Werther am Gärtnerplatz

Diese Inszenierung sollten sich Regisseure der bayerischen Staatsoper mal zu Gemüte führen und nacheifern. Das, was der Zuschauer erwartet, nämlich die Handlung unterstützend begleiten, sodass leicht und ohne komplizierter Fragestellungen Gesang und Handlung gefolgt werden kann!

Freitag, 17.Februar, 09:06 Uhr

Charlotte

Werther-Kritik

Was soll so eine Kritik? Ich möchte z.B. gerne wissen, wie gesungen wurde. Da reicht mir das Wort "überzeugend" nicht. Habt ihr denn keine KritikerInnen mehr, die sowas können? Es ist wirklich erbärmlich, wenn ein Satz wie "Weil Goethe einen Briefroman verfasste, gibt es natürlich vergleichsweise viele Textzitate zu lesen und dankenswerter Weise keine What's App-Nachrichten oder Twitter-Kommentare" das Nieveau der Kritik widerspiegelt.

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