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Uraufführung mit der Staatsphilharmonie Nürnberg Lera Auerbachs 5. Symphonie

Bereits als Kind trat Lera Auerbach öffentlich als Pianistin auf. In ihrer Heimat Russland wurde sie zunächst als Lyrikerin bekannt, nicht als Musikerin oder Komponistin. "Im Ausland gelte ich als russische Komponistin, in Russland eher nicht." Ihre Stücke werden überall gespielt: in der Carnegie Hall, im Lincoln Center in New York, im Münchener Herkulessaal, im Konzerthaus in Oslo, im Theater an der Wien. Oder in der Meistersingerhalle in Nürnberg. Dort feiert die Staatsphilharmonie in dieser Woche ihren 100. Geburtstag - mit der Uraufführung von Auerbachs 5. Symphonie.

Lera Auerbach | Bildquelle: N. Feller

Bildquelle: N. Feller

Mal so richtig gründlich die Küche putzen, wenn eigentlich die Steuererklärung ansteht. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Kennen wir vermutlich fast alle, diese Form der Prokrastination. Da geht’s auch Lera Auerbach nicht anders. Mit dem Unterschied, dass die Komponistin mutmaßlich nicht anfängt, ihre New Yorker Wohnung zu putzen, wenn sie wenig Lust hat zu komponieren. Schreibt sie stattdessen halt ein Gedicht, übt Klavier, arbeitet an einer Skulptur oder malt ein Bild. Zu ihren Partituren liefert Auerbach gern gleich einen begleitenden Bildband mit ab, eine Skulptur, ein Theaterstück oder eine Kunstausstellung. Die Themen, die sie beschäftigen, bearbeitet sie immer parallel in verschiedenen Kunstformen. Und trotzdem ist sie als Komponistin eine der produktivsten und meistgespielten unserer Zeit. Das Geheimnis ihres Erfolgs: 26-Stunden-Tage. Auerbach lebt in einem ständigen hausgemachten Jetlag.

Musik ist mein Leben. Es ist unmöglich, mein Leben von der Musik zu trennen, weil es so intensiv miteinander verschmolzen ist.
Lera Auerbach

Konzert-Tipp

BR-KLASSIK überträgt das Konzert mit der Uraufführung von Lera Auerbachs 5. Symphonie am Samstag, 15. Oktober 2022, ab 20.05 Uhr live im Videostream sowie im Hörfunk.

Aufgewachsen in der schmutzigsten Stadt der Welt

Sie ist vier, als sie anfängt zu komponieren. Mit 12 schreibt sie ihre erste Oper. Aufgewachsen ist sie in der russischen Großstadt Tscheljabinsk. Eine Stadt am Ural, die ein trauriger Superlativ umdünstet: Sie gilt als schmutzigste Stadt der Welt. Maschinenbau, Metallverarbeitung, viel Schwerindustrie, Mülldeponien, dreckige Luft. Außerdem befindet sich ganz in der Nähe die Atomtestsperrzone "Tscheljabinsk 70". In den 50ern gibt es hier einen Atomunfall: ein Stahltank, gefüllt mit hoch radioaktiver Flüssigkeit, explodiert, über 750 Millionen Gigabecquerel mehr als bei der Katastrophe in Tschernobyl vergiften die Umwelt. Tausende Menschen müssen umsiedeln, über 30 Dörfer verschwinden von der Landkarte.

Flucht nach New York

Hier, in Tscheljabinsk, wächst Lera Auerbach also auf. Die Mutter, eine Klavierlehrerin, bringt ihr das Lesen von Wörtern und Noten bei. Sie hat Glück und gerät an aufgeschlossene Lehrer, die ihr auch die Musik von Schönberg und Webern und sogar von Strawinsky näherbringen, der unter den Sojewts als Bösewicht gilt, weil er ins Exil gegangen war. Und auch Lera Auerbach ergreift die Flucht, als sich die Gelegenheit bietet: 1991, kurz vorm Zusammenbruch der UdSSR. Auerbach ist 17 und gerade auf Konzerttournee in den USA. In New York beschließt sie kurzerhand: Sie bleibt. Mit Handgepäck, ohne Freunde, ohne Familie. Aber mit Freiheit im Rücken, die sie für ihre künstlerische Entwicklung zu brauchen glaubt.

Konventionelles und Surreales

An der renommierten Juilliard School studiert Auerbach Klavier und Komposition, schreibt Musik, die sich der Form nach ans 18. Jahrhundert anlehnt. Sonaten, Fugen, Choräle. Und die klingt, als wäre sie im 19. Jahrhundert geschrieben worden. Und dann wieder surreale Dada-Stücke. Ihre Herkunft formt ihre Musik, bringt Stücke hervor wie "Arctica", in dem Lera Auerbach auf die Klimakatastrophe aufmerksam macht. In der Arktis knackt und schmilzt das Eis, in Arctica splittert und schmilzt es auch auf der Bühne: Die Trommeln sind aus Eis gefertigt. Das macht Eindruck, visuell und musikalisch. Für Auerbach ist absolut wichtig, dass die Leute, die zu ihren Konzerten kommen, anders rausgehen, als sie reingekommen sind.

Wenn nichts passiert und man das Konzert als dieselbe Person verlässt, hat man zwei Stunden seines Lebens verschwendet.
Lera Auerbach

Mit Musik berühren und verstören

Musik zu hören, sie wirklich zu erleben, das ist für Auerbach ein aktiver Prozess. Nix mit zurücklehnen und sich berieseln lassen. Die Komponistin will mit ihrer Musik berühren, Erinnerungen wecken, verstören, in Bewegung setzen: "Für mich muss man in seiner Kunst das Gefühl haben, dass sie größer ist als das Leben, dass sie das ist, was vom Leben übrigbleibt. Denn Kunst, egal ob Musik, Bildende Künste oder Choreografie, ist das, was von unserer Zeit übrigbleibt, so wird unsere Zeit gesehen. Und deshalb verlangt Kunst manchmal ein ultimatives Opfer, was auch immer es ist."

Ein ultimatives Opfer. Oder, bei Lera Auerbach, gleich mehrere: Schlafentzug. Das Leben als Einsiedlerin. Karriere statt Mutterschaft. Und auf der Gewinnseite? Da steht eine Musik, die angstfrei ist und emotional catcht. Oder, in Auerbachs eigenen Worten: die uns in der persönlichsten, mächtigsten und direktesten Art und Weise an Orte führt, vor denen wir uns vielleicht fürchten, die uns weinen lassen, ohne dass wir wissen, warum.

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