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Kritik - "Boris Godunow" an der Mailänder Scala Ein Politkrimi zum Saisonstart

Mit Modest Mussorgskys "Boris Godunow" in der Urfassung eröffnet die Mailänder Scala ihre neue Saison. Bei Regisseur Kaspar Holten tritt die Geschichte gleichsam aus einer alten Chronik heraus; der Zar wird von der Erscheinung seines Mordopfers verfolgt. Ildar Abrazakov singt im Ganzen sehr nobel, Riccardo Chailly befeuert am Pult Chor und Orchester. Aber es dauert eine Weile, bis das Ganze in Fahrt kommt.

Boris Godunov | Bildquelle: Teatro alla Scala

Bildquelle: Teatro alla Scala

Während draußen die Polizei allerlei demonstrierende Gruppen weiträumig von der Scala fernhielt, die gegen die stark gestiegenen Energiepreise und die Rechtsregierung in Rom protestierten, für sofortige Maßnahme gegen die Klimakrise (am selben Vormittag hatten Klimaschutzaktivisten das berühmte Opernhaus mit Farbe beschmiert) und auch gegen die Premiere eines russischen Stücks "Boris Godunow" sowie für die Ukraine, gab es drinnen zuletzt uneingeschränkt freundlichen Jubel für alle.

Demonstrierende vor dem Opernhaus, Italiens High Society im Publikum

Protest vor der Mailänder Scala | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com / beltrami Vor der Saisoneröffnung an der Mailänder Scala hielt die Polizei Demonstrierende vom Opernhaus fern. | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com / beltrami Wie üblich lockte diese traditionelle "Serata inaugurale" am 7. Dezember, dem Fest des Mailänder Stadtheiligen und Kirchenvaters Ambrosius, vor allem Italiens finanzkräftige High Society zum Sehen und Gesehen werden in die Scala: Kartenpreise bis zu 3.000 Euro bei diesem einen Event sind als Fundraising für das Haus essenziell. Minutenlangen Applaus gab es vor der italienischen und der Europahymne zum Auftakt für den Staatspräsidenten Sergio Mattarella, der mit EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen und, erstmals, Premierministerin Giorgia Meloni in der Mittelloge Platz nahm: Die ist bei diesem Event immer die erste Bühne, der sich das Publikum zuwendet. 

Dann hebt sich der Vorhang. Sind es riesige Eisblumen auf zersprungenen Glasscheiben, die den Hintergrund säumen? Von Reif bedeckte, kahle Bäume? Oder transparente Papierstücke, Fetzen einer alten Chronik? Auf Es Devlins Bühne wölbt sich jedenfalls von der Rampe nach hinten eine Art von Papierbahn in die Höhe, geformt wie eine Sprungschanze. Einen History-Highway kann man es wohl nennen: Hier erscheint von Beginn an russische Geschichte in Wort und Bild, Projektionen der Annalen des Mönchs Pimen.

Ain Anger überzeugt als knorriger Mönch Pimen

Ain Anger gibt den kriegserfahrenen Alten mit glaubwürdig-ehrenvoller Knorrigkeit – und ist überraschend schon kritischer Zeuge der Krönungsszene. Während anfangs zu beiden Seiten dieser Anlage Bücher zerrissen werden, weil auf Geheiß der Obrigkeit wieder einmal die Geschichte umgeschrieben werden muss, bleibt er nach bestem Wissen und Gewissen bei der Wahrheit: Zar Boris Godunow ist ein Usurpator, er hat einst den rechtmäßigen Zarewitsch Dmitri, noch ein Kind, ermorden lassen, um selbst auf den Thron zu gelangen.

Ein Politkrimi wie aus dem Bilderbuch

Die starke bildliche Anbindung an Pimens Chronik, filmisch unterstützt durch die Videos von Luke Halls, bildet die zentrale Idee des Bühnenbilds, das später auch mit den Landkartenbestandteilen des Russischen Reichs arbeitet. Gerade aufgrund der großen, durch Jonas Bøghs Licht farblich akzentuierten Zeichnungen, die manchmal an Graphic-Novel-Ästhetik erinnern, lässt sich wirklich wortspielerisch von einer Inszenierung wie aus dem Bilderbuch sprechen.

Boris Godunov | Bildquelle: Teatro alla Scala Die Krönungsszene in Mussorgskys Oper "Boris Godunow", an der Mailänder Scala inszeniert von Kaspar Holten. | Bildquelle: Teatro alla Scala Der prägende Einfall des dänischen Regisseurs Kaspar Holten ist es jedoch, dass Boris Godunow durch die Erscheinung des blutüberströmten Dmitri immer mehr gepeinigt wird. Schon in der Krönungsszene schlüpft das personifizierte schlechte Gewissen mit aus den glänzenden Goldtüren des Kreml, die sich auf der Bahn der Geschichte auftun – doch noch lässt sich Boris in Gestalt des ebenso nobel wie gesund und ausdrucksvoll singenden Ildar Abdrazakov nicht die Parade verregnen.

"Boris Godunow" - Die Eröffnungspremiere auf BR-KLASSIK

Erleben Sie den Saisonstart der Mailänder Scala im Radio! BR-KLASSIK überträgt den Opernabend am 8. Dezember 2022 ab 19:05 Uhr.

Musikdirektor Riccardo Chailly bringt Mussorgskys Oper zum Klingen

Und diese Parade arbeitet wirklich mit Kutten, Ikonen, Mitren und dergleichen: Ida Marie Ellekildes Kostüme für Volk und Klerus haben historische Anmutung, nur der Zar und die Mitglieder der Duma spielen später mit ihren Anzügen merklich auf die Gegenwart an. Auch wenn Riccardo Chailly am Pult schon hier zeigt, wie man den lange als spröde und unsinnlich verschrienen, originalen Mussorgsky mit Sinn für dunkle Expression und blitzenden Effekt zugleich zum Klingen bringen kann, nimmt der Abend bis zur Pause einen eher gediegenen und etwas vorhersehbaren Ablauf. 

Bewegender Höhepunkt: Hungerndes Volk fleht um Brot

Spannend wird es aber, wenn das hungernde Volk vor der Moskauer Basilius-Kathedrale ums tägliche Brot fleht. So, wie der großartige Chor der Scala sich da voller Inbrunst ins Zeug legt und wie Chailly die Szene mit dem Orchester umwogt, dramatisch auftürmt und zugleich auskostet, steigert sich das musikalisch zu einem bewegenden Höhepunkt.

Boris ist offenbar in einer beklemmenden Traumszene gefangen. Nicht nur die Gewissens-Altlast Dmitri, sondern auch eine schreckliche Ahnung spukt nun blutüberströmt vor seinem geistigen Auge herum: sein toter Sohn Fjodor (Lilly Jørstad), später auch dessen Schwester Xenia (Anna Denisova). Und dazu sägt längst Schuisky leise, aber stetig an seinem Thron.

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Norbert Ernst legt diesen Erzintriganten Schuisky wahrlich hintergründig an, als einen ausgekochten Machtmenschen, der es schafft, bei all seinen Winkelzügen standhaft und ungerührt zu wirken: Holten zeigt sogar in einer stummen Szene, wie er gemeinsame Sache mit dem aus dem Kloster durchgebrannten Grigory macht (Dmitry Golovnin), der sich als Dmitri ausgibt, um Boris die Zarenkrone streitig zu machen. Nach dem Handschlag verlangt der falsche Dmitri den Handkuss – und Schuisky leistet ihn. Wer die russische Geschichte kennt, weiß: Schuisky wird ihm auf den Thron helfen, ihn dann aber bald zum eigenen Nutzen abservieren …

Jugendliches Timbre: Ildar Abrazakov als Boris Godunow

Boris Godunov | Bildquelle: Teatro alla Scala Ildar Abdrazakov spielt den von Albträumen geplagten Boris Godunow zum Saisonstart an der Mailänder Scala. | Bildquelle: Teatro alla Scala Famos, dass Abdrazakov für den sterbenden Boris so viel innige Pianophrasen zur Verfügung hat. Er gilt derzeit als der führende russische Bass in den besten Sängerjahren und deshalb auch als prädestiniert für diese zentrale Partie des russischen Repertoires. Dabei wirkt seine geschmeidige Stimme beinahe zu gesund, zu jugendlich für die Partie: Man wünschte sich manchmal mehr Gravitas, mehr hörbare Jahresringe im Timbre.

Trotzdem: In dieser Schlussszene wirkt dann doch noch alles in schönster Musiktheatermanier zusammen, der Gesang, das feinfühlige Orchester und die gruselige Szenerie. Boris am Boden, vom Messer eines Schergen durchbohrt, denn sicher ist sicher; Xenia und Fjodor weinend auf dem Bett, ihre toten Doubles so blutverschmiert wie der tote Dmitri daneben – und ein bedrohlicher Blick Grigorys. 

Gepflegte Langeweile im Publikum

Wenn Geplapper im Publikum, klingelnde Handys und knallende Logentüren auf etwas schließen lassen, dann vermutlich auf eine gewisse gepflegte Langeweile bei Mussorgsky. Und die Gemüter der Loggionisti, also der leidenschaftlichen Opernfans auf der Galerie, kochen bei der Saisoneröffnung normalerweise eher bei italienischem Repertoire über – in diese oder jene Richtung. Das ist dann spätestens in einem Jahr wieder zu erwarten: Da bringt Intendant Dominique Meyer eine Neuinszenierung von Giuseppe Verdis "Don Carlo" heraus.

BR-KLASSIK überträgt die Eröffnungspremiere "Boris Godunow" am 8. Dezember 2022 ab 19:05 Uhr im Radio.
Auf ARTE Concert sehen Sie den
Videomitschnitt der Oper.

Kommentare (4)

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Freitag, 09.Dezember, 09:40 Uhr

Nobody

Narzissmus überall

Draußen Klimaaktivisten,
Drinnen Frau Von der Leyen neben der ultrarechten Melloni (!) - eben mal von Brüssel nach Mailand mit xxx kg CO2-Ausstoß (natürlich gilt ihr GREEN DEAL nicht für sie selbst!)
Aber vermutlich brauchen wir alle Nachhilfe in russischer Geschichte, um die aktuellen Greueltaten aushalten zu können.
Narzisstischen Führern war/ist das Volk schon immer völlig gleichgültig, sie gehen emotionslos über jede Leiche! Anordnungen gelten nicht für sie selbst!

Freitag, 09.Dezember, 05:55 Uhr

Issels

Aktualität des Godunov

Eine zeitliche Fügung des Schicksals – ein Abend mit Boris Putin und der von ihm ermordeten Ukraine.
Chapeau

Donnerstag, 08.Dezember, 13:49 Uhr

Eva Prager

So eine Inszenierung...

...würde man sich auch für München wünschen. Leider gibt es hier ja seit Jahren fast nur zeitgenössische, sich immer ähnelnde Inszenierungen(Auto, Straßenkleidung etc.). Dabei sind doch Stücke im historischen Rahmen viel spannender und interessanter.

Donnerstag, 08.Dezember, 12:24 Uhr

Siegfried Metzger

Daumen hoch für die Scala !

Wann darf man in der BSO wieder einmal eine solch grandiose Inszenierung sehen wie in der Mailänder Scala gestern Abend zur Saisoneröffnung und wie lange muss man im Gegensatz zu Mailand diesen Regietheater-Quark hier in München denn noch ertragen? Jede Neuinszenierung an der BSO in den letzten Jahren war nur ein weiterer Schuss in den Ofen! Mit Wehmut denke ich da persönlich an die Ära Everding und Sawallisch zurück, ja mit Wehmut! Und keine neuen (genialen) J.-P. Ponnelle's, G.Friedrich's , Otto Schenks, G. Strehlers, P.Stein's, D.Dorns, P.L.Pizzis und P. Cherau's weltweit und breit am Regiehimmel in Sicht. Ein Trauerspiel!

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