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Kritik – "Quartett" an der Berliner Staatsoper Kampfplatz des Psychoterrors

Eine Frau und ein Mann. Ihr Liebe zueinander hat sich in Gefühlskälte verwandelt. Um über die Leere ihrer Beziehung hinwegzutäuschen, beginnen sie ein grausames Spiel zwischen Lust, Gewalt und gegenseitiger Erniedrigung. Luca Francesconis Oper "Quartett" wurde vor elf Jahren in Mailand uraufgeführt. Seit dem 3. Oktober ist das Werk auf Deutsch in der Staatsoper "Unter den Linden" in Berlin zu sehen. Ein packendes Psychodrama, das musikalisch überzeugt, findet BR-KLASSIK-Kritiker Uwe Friedrich.

"Quartett" an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. | Bildquelle: Monika Rittershaus

Bildquelle: Monika Rittershaus

Die Kulisse erinnert an einen Bunker oder einen Flugzeughangar. Dort lungern die beiden alt gewordenen Kontrahenten aus Choderlos de Laclos Briefroman "Gefährliche Liebschaften" herum und bekämpfen sich gegenseitig. Die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont sind in einer selbstzerstörerischen Beziehung aneinander gekettet, obwohl zumindest die Gesellschaftsordnung, wahrscheinlich die ganze Welt gerade untergehen. Die Umzugskartons sind in der unwirtlichen Betonkapsel der Bühnenbildnerin Barbara Hanicka bereits gepackt, aber weder Vicomte de Valmont noch die Marquise de Merteuil schaffen es, den Kampfplatz ihres Psychoterrors zu verlassen.

Endzeitvision auf die Gesellschaft?

"Quartett" an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. | Bildquelle: Monika Rittershaus Bildquelle: Monika Rittershaus Regisseurin Barbara Wysocka fügt noch eine Tänzerin und ein Kind hinzu, um die beiden handelnden Personen tatsächlich zum Quartett des Titels zu ergänzen, doch die Nebenhandlungen bleiben eher abstrakt und unaufdringlich im Hintergrund. Die ganze Geschichte der Obszönitäten und dennoch merkwürdig verklemmten Sexualität könnte auch eine Traumversion der Marquise sein, ihr Gegenüber nur herbeihalluniziert, damit sie sich die Langeweile vertreiben kann. Das Stück wird so zu einer Endzeitvision, die ebenso auf das private Einzelsterben begrenzt sein könnte wie eine gesamtgesellschaftliche Parabel darstellt.

Surround-Klänge aus dem Tonstudio

Szenisch entscheidet sich Barbara Wysocka für eine Ästhetisierung der dysfunktionalen Beziehung und ist damit im Einklang mit der musikalischen Interpretation. Generalmusikdirektor Daniel Barenboim betont nämlich den Schönklang in Francesconis Partitur, der wie fast alle italienischen Komponisten der Gegenwart extrem formbewusst schreibt. Das ist den Klangflächen und elektronischen Zuspielungen mitunter nicht direkt anzumerken, doch ist die Struktur der Duette, Soli und Orchesterpassagen immer genau kalkuliert. Stets ist klar, wann ein Teil zu Ende geht beziehungsweise ein neuer beginnt. Madrigalanklänge oder Spuren einer Cabaletta machen das Traditionsbewusstsein Francesconis hörbar. Die Tonspezialisten vom Pariser IRCAM steuern eine Surround-Geräuschkulisse bei, spielen zuvor aufgenommene Passagen ein und sorgen für perfekte Balance mit den live gespielten Klängen aus dem Orchestergraben und den beiden Solisten.

"Quartett" an der Berliner Staatsoper

"Quartett" – Oper in zwölf Szenen und einem Epilog (2011) an der Staatsoper "Unter den Linden" Berlin
nach dem gleichnamigen Schauspiel von Heiner Müller
Komponist: Luca Francesconi
Inszenierung: Barbara Wysocka
Musikalische Leitung: Daniel Barenboim
Erstaufführung in deutscher Sprache
Dauer: 90 Minuten ohne Pause
Weitere Termine: 8., 10. und 18. Oktober 2020
Informationen zur Besetzung und zum Ticketverkauf

Ein starkes Gesangsduo

"Quartett" an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. | Bildquelle: Monika Rittershaus Bildquelle: Monika Rittershaus Die Sopranistin Mojca Erdmann ist eine perfekt intonierende Marquise, die ihre verbalen Grausamkeiten in allen Lagen zielgenau platziert. Der Bariton Thomas Oliemans geht den Vicomte etwas robuster an, setzt in seinen Erwiderungen auf Kraft und Durchsetzungsvermögen. Vokal ist er seiner Widersacherin ebenbürtig, in der Handlung bringt es seine Figur nicht weiter: Die Marquise vergiftet den Vicomte schließlich, um allein und verzweifelt dem eigenen Ende entgegenzudämmern.

Zufriedener Komponist

Elf Jahre nach der Uraufführung ist die Oper nach dem Erfolgsschauspiel des Berliner Schriftstellers Heiner Müller nun auf Deutsch in der Staatsoper Unter den Linden angekommen und wurde vom Publikum ausgiebig gefeiert. Der Komponist zeigte sich mit der musikalischen Umsetzung beim Schlussapplaus sehr zufrieden. Sein nach der Mailänder Uraufführung geäußerter Wunsch nach einer "grausamen" Inszenierung wurde jedoch nicht erfüllt.

Sendung: "Allegro" am 5. Oktober 2020 ab 6:05 Uhr in BR-KLASSIK

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