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Kritik – Riccardo Muti bei den Salzburger Festspielen Gänsehautmomente mit Steigerung

Riccardo Muti und die Wiener Philharmoniker, das ist ein eingespieltes Team – finden auch die Salzburger Festspiele. Jahr für Jahr kehren Dirigent und Orchester für die traditionelle Salzburger Matinée dorthin zurück. Dieses Jahr mit einem überraschenden und existenziellen Programm.

Riccardo Muti mit den Wiener Philharmonikern | Bildquelle: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

Bildquelle: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

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Was für ein Kontrast: Vollgestopfte Züge, Touristen-Massen in der Getreidegasse, vor dem Festspielhaus das schon morgens hochgestylte Publikum in Champagnerlaune. Und drinnen geht es um die letzten Dinge. Riccardo Muti eröffnet, ungewöhnlich genug, seine traditionelle Salzburger Matinée mit Tschaikowskys Vermächtnis, der "Pathétique". Die Wiener Philharmoniker liegen ihm an diesem Vormittag zu Füßen, liefern ihm vom ersten Fagott-Solo an innige Holzbläser-Kantilenen, zarten Streicher-Schmelz und grandios abgerundetes Blech. Muti begreift Tschaikowskys Sechste Symphonie, eine Art Requiem, als Seelen-Drama, phrasiert dessen zu Herzen gehende Melodien frei aus, gibt dem Schmerz des Komponisten viel Raum – Empfindsamkeit und Verinnerlichung statt Pomp und Pathos. Nach einer melancholischen Walzer-Erinnerung und einem brillant hingefetzten Marsch bäumt sich das finale Adagio noch einmal schmerzlich auf, bevor es mit dem auskomponierten Stocken der Herzschläge ans Sterben geht.

Kühne Liszt-Harmonien nach der Pause

Mit unvergleichlicher Meisterschaft gelingt Muti an diesem denkwürdigen Vormittag eine exemplarisch abgeklärte Interpretation der "Pathétique", die für Gänsehautmomente sorgt. Was kann darauf noch folgen? Nach der Pause überrascht Muti mit der nie gehörten letzten Tondichtung von Franz Liszt, "Von der Wiege bis zum Grabe". Mit seinem ausgedörrten Tonsatz, den fahlen Klängen und kühnen Harmonien hat sich Liszt da weit in kompositorisches Neuland vorgewagt. Und die "Tristan"-Chromatik für sich entdeckt.

Faust, nur umgekehrt

Der Bass Ildar Abdrazakov | Bildquelle: Sergey Misenko Der Bass Ildar Abdrazakov spielt den Sarkasmus des Teufels in Boitos Oper "Mefistofele" diabolisch aus. | Bildquelle: Sergey Misenko "Vom Himmel durch die Welt zur Hölle", heißt es im Vorspiel zu Goethes "Faust". Riccardo Muti geht in seinem existenziellen Programm den umgekehrten Weg – und beschließt es mit dem "Prolog im Himmel" aus der Faust-Oper "Mefistofele" von Arrigo Boito, der vor allem als kongenialer Librettist des späten Verdi bekannt geworden ist. Da verkörpert der machtvoll auftrumpfende Wiener Staatsopernchor samt engelsgleicher Kinderstimmen die Himmlischen Heerscharen, die den Höllenfürsten zur Wette um Fausts Seele herausfordern. Und Mephistopheles, die Hauptfigur in Boitos Oper, nimmt den Fehdehandschuh auf. Ildar Abdrazakov, einer von Mutis Lieblingssängern, leiht dem Teufel seinen voluminösen Prachtbass und spielt den rollentypischen Sarkasmus diabolisch aus.

Das Universum klingt, das Publikum rast

In diesem Opern-Ausschnitt ist Muti ganz in seinem Element, souverän steuert er den riesigen Apparat mit Fernorchester und stereofonen Echoeffekten à la Berlioz, mit Engelsharfen und Orgelklängen durch die Klangmassen. Diese zutiefst nazarenerhafte Musik liegt ihm hörbar am Herzen – gern würde man, von ihm dirigiert, mal die ganze "Mefistofele"-Oper in Salzburg erleben. Mit dem Prolog brachte Muti das Universum zum Klingen – und das Publikum zum Rasen. Ein klug konzipiertes Programm und eine überwältigende Darbietung: Können Festspiele mehr leisten?

Sendung: Allegro am 16. August 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Dienstag, 16.August, 13:12 Uhr

Frauke Gossend

Salzburg

Auf die Gefahr hin, dass Ihr diese Kritiken schon kennt —- muss doch sehr schön gewesen sein!

Montag, 15.August, 10:46 Uhr

anja.hasselmann@web.de

Muti

na, jetzt höre ich mir Karajan mal an. Kuss H

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