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Widerstand gegen Andreas Reize Turbulenzen um designierten Leipziger Thomaskantor

Manche sagen, es sei das wichtigste Amt in der Szene der evangelischen Kirchenmusik, das Amt des Thomaskantors in Leipzig, in der Nachfolge von Johann Sebastian Bach. Im Moment hat es Gotthold Schwarz inne, er wird im Sommer in den Ruhestand gehen. Sein Nachfolger – und das war eine ziemliche Überraschung – wird ein Katholik aus der Schweiz: Andreas Reize. Das Berufungsverfahren ist abgeschlossen, Findungskommission und Stadtparlament haben die Persionalie einstimmig beschlossen. Doch nun regt sich Widerstand aus dem Chor.

Chorleiter Andreas Reize | Bildquelle: Andreas Reize

Bildquelle: Andreas Reize

Mehrere Thomaner haben sich am 19. März in einem "Brandbrief" an die Öffentlichkeit gewandt. Weil sie, so schreiben sie an diverse Redaktionen, intern kein Gehör finden, weil sie keinen Sitz und keine Stimme in der Findungskommission hatten. Sie lehnen Andreas Reize als Thomaskantor ab und plädieren für David Timm als Chorleiter – der war früher selbst Thomaner und ist aktuell Universitäts-Musikdirektor in Leipzig. Er war im Bewerbungsverfahren auf Platz zwei nach Andreas Reize gekommen.

Wunschkandidat Timm lehnt ab

David Timm wiederum hat vorgestern in einem Brief mitgeteilt, dass er nicht zur Verfügung steht, weil er das Berufungsverfahren als korrekt bezeichnet und akzeptiert. Er vertritt die Ansicht, dass es jetzt schlicht zu spät ist. Andreas Reize ist ordentlich berufen, soll Ende August sozusagen auf dem Stuhl Johann Sebastian Bachs Platz nehmen. "Pacta sunt servanda", sagt der Lateiner, Verträge sind einzuhalten! In Zukunft, sprich beim nächsten Bewerbungsverfahren, wäre es sicher sinnvoll, einen Vertreter der Thomaner in die Findungskommission zu berufen. Aber der hätte ja auch diesmal keine Chance gehabt, da ja alle anderen Mitglieder des Gremiums sich für Andreas Reize entschieden haben.

Den offenen Brief haben nicht alle Thomaner unterschrieben, sondern lediglich einige aus der Oberstufe. Sie nehmen sich heraus, für alle Thomaner der 10. bis 12. Klasse zu sprechen. Es wird aber nicht klar, ob es sich um die Meinung der Mehrheit handelt, sprich, ob da eine Art Abstimmung vorausgegangen ist, oder ob es die Meinung eben nur dieser einzelnen Choristen ist. Darüber kann man nur spekulieren, und auch darüber, ob die Jugendlichen bei der Erstellung des Briefes beraten worden sind.

Selbsternannte "Gralshüter der Bach-Tradition" im Hintergrund?

Womöglich haben ehemalige Thomaner und/oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Thomasalumnat Vorbehalte gegen Andreas Reize, vielleicht weil er katholisch ist und aus der Schweiz kommt. In den letzten Wochen haben sich immer wieder selbsternannte "Gralshüter der Bach-Tradition" in den sozialen Netzwerken geäußert. Christfried Brödel, jahrelang Leiter der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Dresden und heute Präsident der Neuen Bach-Gesellschaft, votiert dagegen eindeutig für Andreas Reize. Er leitete das fünfköpfige Expertengremium, das die Findungskommission beraten hat. Alle vier Kandidaten in der Abschlussrunde haben sich diesem Gremium präsentiert. Brödel betont: "Wir haben bei den musikalischen Vorstellungen vier hervorragende, erstrangige Musiker erlebt, alle mit unterschiedlichen Profilen."

Wir haben denjenigen vorgeschlagen, der uns in der Gesamtheit seiner musikalischen, pädagogischen, theologischen, planerischen und menschlichen Fähigkeiten als der Geeignetste erscheint – und das war Andreas Reize.
Christfried Brödel, Leiter der Findungskommission

Vorwurf: Reize hätte Intonationsschwächen nicht bemerkt

In ihrem Brief formulieren die Thomaner der 11. und 12. Klasse einen harten Vorwurf: Andreas Reize hätte bei seinem Probedirigat nicht bemerkt, dass die Intonation des Chors nicht gut war. Obwohl die Sänger während eines Stücks fast einen Ton gesunken waren, wäre nicht eingeschritten – anders sei das bei David Timm gewesen. Christfried Brödel lässt diese Argumentation nicht gelten. Er, der dreißig Jahre lang Chorleiterinnen und Chorleiter ausgebildet hat, sagt, dass Andreas Reize da bewusst nicht eingeschritten ist, um die Jungs in diesem Moment nicht zu überfordern.

Vorbehalte gegen einen katholischen Schweizer?

Thomaskantor Andreas Reize | Bildquelle: PR Andreas Reize, designierter Leipziger Thomaskantor | Bildquelle: PR Aber welche Absicht verfolgen die Autoren des Briefes dann? Gibt es Vorbehalte gegen Andreas Reize, weil er Katholik ist und aus der Schweiz kommt? Wenn dem so wäre, dann hält Christfried Brödel das für äußerst problematisch. In der fachlichen Bewertung habe es keine Rolle gespielt, in welcher Gegend die Bewerber bisher tätig waren. "Leipzig ist ein internationales Musikzentrum. Deshalb darf man den Blickwinkel nicht von vornherein einengen. Herr Reize hat hohe Achtung vor dem Amt, das er übernimmt", so Brödel.

Durch ihn wird die Tradition nicht gefährdet, sondern mit neuen Ideen belebt und weitergeführt.
Christfried Brödel, Leiter der Findungskommission

Erschwerter Start ins neue Amt?

Die Unterzeichner des Briefs werden es dem neuen Thomaskantor ab Ende August sicher nicht leichtmachen. Aber etliche von ihnen werden dann gar nicht mehr im Chor sein, nämlich die, die in wenigen Wochen Abitur machen. Des Weiteren haben alle Mitglieder der Findungskommission betont, dass Andreas Reize bei seinem Probedirigat ein enormes pädagogisches Geschick im Umgang vor allem mit den jüngeren Thomanern bewiesen hat. Die seien mehrheitlich fasziniert gewesen von ihm und hätten ihm regelrecht an den Lippen gehangen. Das spreche sehr für Reize. Es wäre zu hoffen, dass es dem neuen Thomaskantor durch eine Charmeoffensive auch gelingen wird, die älteren Chormitglieder für sich einzunehmen.

Sendung: "Leporello" am 26. März 2021 ab 06:05 Uhr in BR-KLASSIK

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