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Alte Opernstoffe neu erzählt Verführer und Verführte

Leichtgläubig, wankelmütig, naiv oder die wildgewordene Furie: Wenn es um Verführungen in der Oper geht, dann kommen Frauen meistens nicht gut weg. Männer übrigens auch nicht. An einigen Textpassagen kann man sich da auch schon mal gehörig bei einem Opernbesuch stoßen. Für viele Regisseure ein Grund, mit diesen tradierten Rollenbildern kreativ und reflektiert umzugehen.

Ilaria Lanzino | Bildquelle: Michal Leskiewicz

Bildquelle: Michal Leskiewicz

Die Regisseurin Ilaria Lanzino inszeniert demnächst den "Liebestrank" am Staatstheater in Nürnberg. Feministische Ansätze bei Ihren Opern beschäftigen sie spätestens seit ihrer Inszenierung der polnischen Oper "Straszny Dwór", in der im Kontrast zur Botschaft der Oper, der einzige Lebensinhalt der Frauen sei die Heirat, die Hauptdarstellerin ein Hochzeitskleid zerschnitt.

Don Giovanni: Die Inszenierung von Romeo Castellucci bei den Salzburger Festspielen 2021

"Mille tre": 1003 Frauen habe Don Giovanni allein in Spanien verführt – laut seinem Diener Leporello. Dieser absurden Zahl in Mozarts dramma giocosa lässt sich wohl kaum eine gewisse Komik aberkennen. In der Inszenierung von Romeo Castellucci bei den Salzburger Festspielen 2021 bleibt einem das Lachen aber doch im Hals stecken: Leporello zieht hier aus den Fächern eines Kopierers Frauenhaare heraus: Die albtraumhafte Szene versinnbildlicht die sexuelle Objektivierung von Frauen durch Don Giovanni – vor einer Kulisse aus ästhetischem-Weiß.

Es gibt viele problematische Stellen in der Oper, wo Werte verbreitet werden, die in unserer heutigen Gesellschaft eigentlich nichts mehr zu suchen haben.
Ilaria Lanzino

"Man lässt das unkommentiert und dieser Wert fließt in unser Unterbewusstsein und verwurzelt sich", fährt Ilaria Lanzino fort. "Und das ist falsch. In dieser Hinsicht kann Oper sogar gefährlich sein."

Szene aus "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen 2021, Inszenierung: Romeo Castellucci | Bildquelle: SF / Ruth Walz Szene aus Romeo Castelluccis "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen 2021 | Bildquelle: SF / Ruth Walz Ilaria Lanzino stimmt der Frage "muss man alte Opernstoffe neu erzählen" und auch der Castellucci-Inszenierung zu. Sie beeindrucken hier die ikonischen Schockmomente. Diese haben nicht durchwegs einen feministischen Ansatz wie dieser, wenn Don Giovanni über Freiheit singt und dabei ein weibliches Mannequin mit roher Gewalt zerschlägt.

Nicht nur der Verführer, auch die Verführten in "Don Giovanni" kommen charakterlich nicht besonders gut weg. Zerlina beispielsweise lässt sich zuerst an ihrem Hochzeitstag auf Don Giovanni ein, dann gewinnt sie ihren Bräutigam mit einer skurrilen Arie zurück: "Batti, batti, o bel Massetto" – Schlag mich, guter Massetto. Hacken, Sensen und andere Bauerngeräte nimmt Masetto hier nacheinander in die Hand.

"Wie er das inszeniert hat, finde ich genial. Es ist ein Moment, wo Zerlina auf eine Gewohnheit Masettos eingeht, weil der Mann sie offensichtlich schlägt. Und plötzlich bleibt einem das Lachen im Hals stecken, weil mir der Text etwas sagt, was ich nicht als selbstverständlich nehmen soll." (Ilaria Lanzino)

Rigoletto: Die Inszenierung von Philipp Stölzl bei den Bregenzer Festspielen 2019

Rigoletto auf der Seebühne Bregenz 2019 | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Rigoletto"-Inszenierung von Philipp Stölzl bei den Bregenzer Festspielen 2019 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die angebliche Wankelmütigkeit der Frauen ist auch für den Herzog von Mantua in der Arie "La donna è mobile" der Freifahrtschein für seine Verführungen – beidseitiger Konsens: zweifelhaft. In der Inszenierung dieser Verdi-Oper von Philipp Stölzl bei den Bregenzer Festspielen 2019 gibt es auf der Bühne klare Kritik am Herzog. So hängen während dieser Arie körperhafte Gestalten an Fäden einer gigantischen Hand, die Übergriffigkeit und Beliebigkeit des Duces entblößend. Eine moralische Wertung von Verführter und Verführer  gibt es hier durch Verdi selbst.

"Es handelt sich um Musiktheater. Deswegen entfaltet die musikalische Ebene auch eine neue Dimension. Wenn man die Arien von Gilda beobachtet und die Arie von dem Duca, sie sind nicht nur doppelt so lang, sondern sind auch von einem unfassbaren musikalischen Hochwert, während diese Arien von dem Duca di Mantua total trivial ist. Nur gut für die Werbung der Pizza." (Ilaria Lanzino)

Carmen: Die Inszenierung von Barrie Kosky 2016 in Frankfurt

"Carmen" an der Oper Frankfurt | Bildquelle: Monika Ritterhaus Szene aus "Carmen" in der Inszenierung von Barrie Kosky 2016 in Frankfurt | Bildquelle: Monika Ritterhaus Nun zu der Verführerin schlechthin: Die Carmen ist die "Femme fatale" der Oper. Ihr Temperament überschreitet die ein oder andere moralische Grenze und ihre Verführungskünste setzt sie auch mal taktisch ein. Barrie Kosky schockiert 2016 in seiner Frankfurter Interpretation dieser Bizet-Oper das Publikum: Carmen, die Frau voller Reize tritt in einem Gorilla-Kostüm auf.

"Ich denke, dass dadurch der Regisseur unfassbar mit unserer Erwartung gespielt hat: Warum stellen wir uns eine Carmen vor, die super weiblich, super kurvig, der Inbegriff einer männlichen Phantasie ist?"

Fazit

Die Opernstoffe stehen vor einem Dilemma: Es gibt diese frauenfeindlichen Textstellen aus einer veralteten Gesellschaftsstruktur. Es gibt diese zweifelhaften Verführungen. Ständige szenische Kommentare dieser Passagen können die eigentlichen oft komplexere Botschaft und den Musikgenuss stören oder gar obligatorisch wirken. Das zu vermeiden erfordert also Kreativität. Eine gewagte Überlegung wäre da, den Text hier und da zu ändern. Bitte nicht, sagen da wohl viele. Diese Reibung mit den alten Sichtweisen kann nämlich sogar eine Chance für eine echte Reflexion der gegenwärtigen Gesellschaft sein:

"Wir haben dadurch die Möglichkeit, etwas sichtbar zu machen, was sichtbar gemacht werden muss: Sind diese Werte der Vergangenheit noch immer in unserer Gesellschaft: Ja, nein? Wie setzten wir uns damit auseinander? Und diese Gegenüberstellung kann nur stattfinden, wenn der Text nicht entschärft wird, sondern wenn Reibungen klar werden." (Ilaria Lanzino)

Sendung: "Allegro" am 8. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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