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Weibliche Avantgarde Wie Frauen die elektronische Musik revolutionierten

No Country for Old Men: Bis in die Siebziger wurde die elektronische Musik von Frauen dominiert, von Pionierinnen wie Éliane Radigue oder Wendy Carlos. Die Dokumentation "Sisters with Transistors" erzählt ihre Geschichte.

Regler | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Wenn sie im Studio sei, rieche es immer so gut. Solche Bemerkungen habe sie sich anhören müssen, als sie in den Fünfzigern im Studio des Experimentalmusikers Pierre Schaeffer gearbeitet habe, erzählt die französische Komponistin Éliane Radigue. Für das, was sie dort machte, interessierte man sich weniger. Das zum Thema künstlerische Wertschätzung.

Komponisten waren alte, weiße, tote Männer
Laurie Spiegel

Es sind solche Anekdoten, mit denen die Dokumentation "Sisters with Transistors" vor Augen führt, was es damals bedeutete, als Frau Musik zu machen. "Komponisten waren alte, weiße, tote Männer", sagt die Computermusik-Pionierin Laurie Spiegel in einer anderen Szene. Sie sei gar nicht auf die Idee gekommen, etwas Ähnliches zu machen. Kein Wunder also, dass die geniale Sounddesignerin Suzanne Ciani in den 70ern nicht in der Musik-, sondern in der Werbeindustrie Fuß fasste. Eine Frau an den Reglern, das hätten sich die Plattenbosse damals schlicht nicht vorstellen können, erzählt sie. Schlecht für die Label, gut für Coca Cola, Seat & Co, deren Werbeclips von Cianis Soundexperimenten lebten. Avantgarde meets Capitalism.

Elektronische Musik als Entfaltungsraum

Trotz alledem: Von "verkannten Heldinnen der elektronischen Musik" zu sprechen, wie es die Doku im Untertitel tut, ist ein bisschen übertrieben. So richtig verkannt ist keine der porträtierten Komponistinnen. Éliane Radigue, mittlerweile 91, zählt längst zu den Größen der elektroakustischen Musik. Die Berliner MärzMusik widmete ihr letztes Jahr eine eigene Retrospektive. Dieses Jahr steht eine große Uraufführung in Donaueschingen an. Wendy Carlos (geboren als Walter) schuf mehrere Soundtracks für Stanley Kubrick und produzierte mit ihren erstaunlich organischen Synthie-Barockadaptionen auf "Switched-On-Bach" das meistverkaufte Klassik-Album des 20. Jahrhunderts.

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Sisters with Transistors, Pionierinnen der elektronischen Musik | Doku HD | ARTE | Bildquelle: Irgendwas mit ARTE und Kultur (via YouTube)

Sisters with Transistors, Pionierinnen der elektronischen Musik | Doku HD | ARTE

Allerdings ist es überfällig, den Eindruck zu korrigieren, Pierre Schaeffer und Karlheinz Stockhausen seien die einzigen gewesen, die die elektroakustische Musik so richtig nach vorne gebracht hätten. Im Gegenteil. Denn auch das lernt man hier: Während die renommierfreudigen Männers auf die repräsentativen Positionen im Musikbetrieb schielten, also "klassische" Klassik bevorzugten, bot das eher abseitige Feld der elektronischen Musik Musikerinnen einen eigenen Entfaltungsraum. Das war‘s dann allerdings auch schon mit der Analyse, ansonsten erzählt die Dokumentation eher anhand von Beispielen. Mehr anekdotisch als soziologisch.

Studios wie Schaltzentralen von Atomkraftwerken

Was toll ist: Regisseurin Lisa Rovner unternimmt an keiner Stelle den Versuch, ihren Protagonistinnen irgendeine Gruppenidentität aufzuquetschen. Ja, wir haben nur mit Komponistinnen zu tun. Ihr Verständnis von Musik ist trotzdem völlig verschieden. Es gibt die zarten, wolkigen Klangflächen einer Éliane Radigue und genauso die bös-buzzernden Sounds von Maryann Amacher. Ähnliches gilt für das Verhältnis zur Technik. Während für Laurie Spiegel und Daphne Oram, die das erste elektroakustische Studio der BBC gründete, die völlige Beherrschung der Technik entscheidend ist, wird sie bei Bebe Barron geradezu mystifiziert. Die Musikerin probiert ein bisschen, Musik macht die Technik selbst. "Schönheit aus Schaltkreisen", raunt es aus dem Off. (Übrigens in Person von Laurie Anderson, die in die Rolle der Erzählerin schlüpft.)

Überhaupt die Technik: Während heute die cleanen Oberflächen die Elektronik kaschieren, ist sie in diesem Film überpräsent, strotzt nur so vor Materialität, ist in ihrer ganzen Kabelhaftigkeit extrem physisch. Elektronisches Musikmachen, das bedeutete damals, elefantöse Geräte zu bändigen. Musikstudios, die an die Schaltzentralen von Atomkraft erinnerten. Immerhin saßen hier Frauen an den Reglern. Und auch sonst kam hier mehr bei rum.

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