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Der 8. Mai 1945 – Stunde Null? Das Musikleben zwischen Trümmern und Aufbruch

War der 8. Mai 1945 die Stunde Null des deutschen Musiklebens? Jeder Zeitzeuge wird auf diese Frage anders antworten. Auch in jeder Stadt, in jedem Theater wird die Antwort verschieden ausfallen. Wir blicken zurück und beleuchten die Karrieren von Karl Amadeus Hartmann, Eugen Jochum, Georg Solti, Leo Borchard und Josef Krips.

Das historische undatierte Foto zeigt das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Nationaltheater in München  | Bildquelle: Bayerische Staatsoper / dpa

Bildquelle: Bayerische Staatsoper / dpa

Bild: das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Nationaltheater in München

Im April 1945 sieht der Komponist Karl Amadeus Hartmann vor seinem Haus Tausende geschwächte und ausgehungerte Häftlinge aus dem Konzentrationslager Dachau vorbeiziehen, getrieben von schwer bewaffneten SS-Schergen. Er setzt sich ans Klavier und verleiht seiner Erschütterung in Klängen Ausdruck: Es entsteht die Zweite Klaviersonate, ein musikalischer Appell an die Menschlichkeit in grausamen Zeiten – komponiert wenige Tage vor der endgültigen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945. Der Krieg war vorbei, Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren, unzählige Städte auf dem gesamten Kontinent lagen in Trümmern.

Hartmann – Gründer der musica viva

Den 8. Mai 1945 muss Karl Amadeus Hartmann als Befreiung, nicht wie die meisten Deutschen als Niederlage empfunden haben. Und als Aufgabe, der freien Entfaltung der Kultur wieder Geltung zu verschaffen. Noch im selben Jahr wurde er auf Initiative der amerikanischen Militärregierung Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper und gründete in dieser Funktion die Reihe "Musica Viva".

Aus Hartmanns Zweiter Klaviersonate

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K.A. Hartmann - Piano Sonata No. 2 : III Marcia funebre | Bildquelle: musicaignotus (via YouTube)

K.A. Hartmann - Piano Sonata No. 2 : III Marcia funebre

Wir musizierten mit einer Begeisterung, als ob uns die Musik neu geschenkt worden wäre.
Eugen Jochum

Eugen Jochum: bettelarm, aber frei

Eugen Jochum | Bildquelle: picture-alliance/dpa Eugen Jochum | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Münchner Philharmoniker waren es, die am 8. Juli das erste Konzert nach dem Kriegsende in München gaben. Am Pult im Prinzregententheater stand Eugen Jochum, später der erste Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. In den 1960er-Jahren blickte Eugen Jochum auf die ersten Monate nach dem Kriegsende zurück: "Wir waren bettelarm geworden, wir hatten nichts zu beißen. Aber wir musizierten mit einer Begeisterung, als ob uns die Musik, die wir faktisch kaum unterbrochen hatten, neu geschenkt worden wäre. Wir waren frei!" Gleichzeitig sprach Jochum von Freiheit als etwas, das die Gesellschaft neu lernen musste. Zur Scham über die Taten der Nationalsozialisten kam die Begeisterung für den Neuanfang: "Es war ein schmerzlicher Vorgang, aber heilsam, wie die Zeit nach einer tödlichen Krankheit", erinnert sich Eugen Jochum.

Die Ära Georg Solti

Die Bayerische Staatsoper nahm ihren Spielbetrieb am 18. November 1945 wieder auf. Viele der etablierten deutschen und österreichischen Dirigenten waren politisch vorbelastet. Deshalb schlug die amerikanische Militärregierung den jungen Georg Solti als Chefdirigenten vor. Solti war wegen seiner jüdischen Herkunft aus Ungarn in die Schweiz geflohen. Von dort ließen ihn die Amerikaner nach München holen – nachts, im offenen Jeep durch die französische Besatzungszone. Solti hatte jedoch wenig Rückhalt im bayerischen Kultusministerium. Man verhandelte immer wieder mit namhaften deutschen Dirigenten, schreckte aber vor der politischen Außenwirkung zurück. Entlarvend ist ein Protokoll von Gesprächen mit Joseph Keilberth. Der Dirigent sprach seine eigene vorbelastete Vergangenheit offen an und fragte sein Gegenüber, ob es politisch nicht übel vermerkt werde, wenn Solti zugunsten eines ehemaligen Mitglieds der NSDAP entlassen werde. Er erhielt die Antwort, man könne ja als "Gegenzug" etwa einen jüdischen Schauspieldirektor ernennen.

Ein jüdischer Dirigent als moralisches Feigenblatt?

Sir Georg Solti im Sessel beim Arbeiten | Bildquelle: Lady Valerie Solti Georg Solti | Bildquelle: Lady Valerie Solti Eine unwürdige Taktik, die aber damals in vielen Institutionen Deutschlands Anwendung fand: Man beschäftigte Juden bewusst in öffentlichkeitswirksamen Tätigkeitsfeldern – gewissermaßen als moralisches Feigenblatt, um in deren Schatten auch ehemalige Nazis wieder hoffähig zu machen. Georg Solti hat aus seinem Gewissenkonflikt nie einen Hehl gemacht: Lange bewegte ihn die Frage, ob er als Jude im Land der Shoah leben kann und will. Er hat diese Frage im Sinne seiner Leidenschaft für die Musik bejaht. Aber auf dieses perfide Spiel wollte er sich dann doch nicht mehr einlassen; 1952 kündigte er seinen Vertrag. Beim Publikum war Solti mit seiner kraftvollen und leidenschaftlichen, dabei aber höchst präzisen Art stets beliebt. Und die Süddeutsche Zeitung resümierte bedauernd: "Solti wurde abgesägt. Worauf seine Weltkarriere begann."

Musikalischer Neuaufbau

Auch in den anderen großen deutschen Musikmetropolen hatten die Intendanten und die alliierten Kulturoffiziere Schwierigkeiten, unbelastete Dirigenten zu finden: Pultgrößen wie Clemens Krauss, Wilhelm Furtwängler oder Karl Böhm waren von den Besatzungsmächten wegen ihrer Nähe zu den nationalsozialistischen Machthabern mit Berufsverbot belegt worden. Nicht selten waren es daher Verfolgte des Nazi-Regimes und Dirigenten jüdischer Herkunft, die mit dem musikalischen Neuaufbau betraut worden sind: etwa der Widerstandskämpfer Leo Borchard, der vom Berliner Magistrat zum Leiter der Berliner Philharmoniker berufen wurde, aber schon im August 1945 versehentlich von einem amerikanischen Soldaten erschossen wurde.

Josef Krips – Retter des Wiener Musiklebens

Oder in Wien der Dirigent Josef Krips. Da sein Vater jüdischer Herkunft war, wurde Krips nach dem sogenannten Anschluss Österreichs ans damalige Deutsche Reich mit Berufsverbot belegt. Er gab einige Gastspiele im Ausland und überlebte den Krieg in Wien als einfacher Arbeiter im Verborgenen. Nach dem Krieg war er der einzige österreichische Dirigent, der völlig unbelastet war und sofort wieder arbeiten konnte. Krips war es, der das Musikleben Wiens fast alleine in Gang gebracht hat: Er hat die Wiener Staatsoper in ihrem Ausweichquartier im Volkstheater eröffnet, er hat die ersten Konzerte der Wiener Philharmoniker und Symphoniker dirigiert.

Leo Borchard dirigiert die "Fledermaus"-Ouvertüre

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Johann Strauss II - Die Fledermaus Ouverture / Leo Borchard - Staatskapelle Berlin | Bildquelle: bochibochiappu (via YouTube)

Johann Strauss II - Die Fledermaus Ouverture / Leo Borchard - Staatskapelle Berlin

Trost und Erbauung

Für Solti, Borchard oder Krips war es nicht leicht, im Land der Shoah zu arbeiten, vor allem als die Altvorderen nach und nach wieder zurückkehrten. Aber sie spürten die Dankbarkeit der Leute, die froh um jede Stunde des Trosts und der Hoffnung waren. Es waren Momente, in denen Täter, Mitläufer und Verfolgte gleichermaßen ausblendeten, was geschehen war, und sich auf einer weltenthobenen Ebene der reinen Musik begegneten. "Es hat sich gezeigt", blickte Josef Krips später zurück, "dass in diesen Tagen, wo die Menschen durch schreckliche Dinge gegangen sind, Musik eben kein Entertainment ist, sondern Trost und Erbauung."

Sendung:
"Das Musik-Feature" am 08. Mai 2020, 19:05 Uhr
sowie am
09. Mai 2020, 14:05 Uhr
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"8. Mai 1945 - Stunde Null?"

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