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Der wilde Sound der 20er

Auszug "Im Taumel der Zwanziger" von Tobias Bleek Arnold Schönberg und die Entwicklung der Zwölftontechnik

In den 1920er-Jahren gerät nicht nur die Welt, sondern auch das Musikleben ins Taumeln. Tobias Bleek zeigt in seinem neuen Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme", wie eng Musik und Gesellschaft miteinander verflochten sind. Sein Buch erscheint im April bei Bärenreiter/Metzler – einige Auszüge daraus veröffentlicht BR-KLASSIK exklusiv. In der dritten Folge geht es um Schönbergs Zwölftonmusik und das Bestreben als Erneuerer der Tradition in die Musikgeschichte einzugehen – ein Thema, das Tobias Bleek in einem umfangreichen Buchkapitel behandelt.

Gemälde von Arnold Schönberg | Bildquelle: Arnold Schönberg, Selbstportrait 1908

Bildquelle: Arnold Schönberg, Selbstportrait 1908

Ein Beitrag zur "Hegemonie der deutschen Musik"?

Am 13. März 1923 studierte Arnold Schönberg die Rubrik "Theater und Kunst" des Neuen Wiener Journals. Wie jeden Tag informierte die kulturorientierte Tageszeitung ihre Leserschaft im hinteren Teil des Blatts über Neuigkeiten aus dem Musikleben. An der Staatsoper plane man, die Titelpartie von Giacomo Puccinis Manon Lescaut (1893) alternierend mit den Starsopranistinnen Maria Jenitza und Lotte Lehmann zu besetzen. Der gefeierte Opernkomponist, der sich diese Doppelbesetzung ausdrücklich gewünscht habe, werde die letzten Proben "persönlich leiten". Bald zu erleben sei außerdem ein neues Werk von Dr. Richard Strauss mit dem Titel "Schlagobers". Der Operndirektor ziehe das "eigens für Wien" komponierte Ballett, dessen Ausstattungskosten sich angeblich auf "rund 1900 Millionen Kronen" beliefen und mit den "Ersparungsmaßnahmen des Sanierungskomitees nicht im Einklang stünden", nun doch nicht zurück. "Die Tondichtung 'Schlagobers' spielt in Wien in der Konditorei Demel und im Prater. Strauss hat das Buch selbst verfasst."[1]

Alban Berg und Arnold Schönberg | Bildquelle: Getty Images Alban Berg und Arnold Schönberg | Bildquelle: Getty Images Dass sich Schönberg für die Neuproduktion von Puccinis erster Erfolgsoper und für Strauss' lokalpatriotische Kaffeehaus-Hommage interessierte, ist eher unwahrscheinlich. Auf der nächsten Seite stieß er allerdings auf zwei Sätze, die seine eigene Person betrafen: "Arnold Schönberg, der Führer der Expressionisten in der Musik, arbeitet zur Zeit an einem Violinkonzert. Bemerkenswert ist, daß Schönberg, der jahrelang nichts Neues geschaffen hat, in diesem Werk seine gewohnten Bahnen verlassen hat und sich einem etwas gemäßigteren Stil anschließen will."[2] Noch am selben Tag setzte sich der 48-Jährige an die neue Schreibmaschine – ein Weihnachtsgeschenk seiner Schüler[3] –, um seinem Ärger Luft zu machen. In einem Brief an seinen Verleger, den umtriebigen Direktor der Wiener Universal Edition Emil Hertzka, schreibt er: "Abgesehen von den vielen Ungeheuerlichkeiten, enthält diese Lügenkröse auch eine richtige Tatsache: dass ich ein Violinkonzert plane. Da aus meinem Kreis nur Webern und Berg von dieser Absicht wissen, so kann diese Veröffentlichung nur aus der U. E. stammen. Ich muss Sie dringend bitten, der Sache energisch nachzugehen. Ich habe nicht mehr als 20 Jahre auf meinen Ruf gesehen, um mich nun lächerlich machen zu lassen."[4]

Dass sich Schönberg über eine Zeitungsmeldung an nachgeordneter Stelle dermaßen echauffierte, mag auf den ersten Blick überraschen. Liest man die wenigen Sätze allerdings in Kenntnis seiner damaligen Situation und Gemütslage, lässt sich der Ärger durchaus nachvollziehen. So lenkt die scheinbar harmlose Notiz den Blick geschickt auf einige neuralgische Punkte und nimmt diese zum Ausgangspunkt für Spekulationen, die Schönberg als direkten Angriff auf seine künstlerische Integrität verstehen musste: der Versuch, ihn als "Führer der Expressionisten" abzustempeln und damit zum alten Eisen zu werfen, die Mutmaßung, er sei dabei, sich von seinem bisherigen kompositorischen Weg und seiner Kompromisslosigkeit zu verabschieden, und werde fortan "gemäßigtere" Musik schreiben, sowie der Vorwurf mangelnder schöpferischer Produktivität. All dies wollte und konnte der Anfeindungen gewöhnte Komponist, der Attacken auf seine Person sehr genau registrierte,[5] nicht so stehen lassen. […]

Tatsächlich markiert das Jahr 1923 in Schönbergs Schaffen einen Wendepunkt. Nach Jahren der Krise und des Experimentierens gelang es ihm im Lauf des Frühjahrs drei Werke zu vollenden, die sowohl in kompositionstechnischer Hinsicht als auch ästhetisch Neuland erschließen: Die Fünf Klavierstücke op. 23, die Suite für Klavier op. 25 sowie die Serenade op. 24 – eine apart besetzte Komposition für Klarinette, Bassklarinette, Mandoline, Gitarre, Streichtrio sowie tiefe Männerstimme. Mitte April begann er dann mit der Arbeit an einem Bläserquintett, das er im folgenden Sommer vollendete. In diesem Werk von rund 40 Minuten Spieldauer wird das Verfahren, das sich in den vorausgehenden Stücken herauskristallisiert hatte, die "Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" (kurz "Zwölftontechnik" oder "Dodekaphonie" genannt) von Schönberg erstmals zur Grundlage einer großformatigen Komposition gemacht. Unter dem Einfluss der Selbstdeutungen der Schönberg-Schule und ihrer Rezeption in der westlichen Avantgarde nach 1945 neigte man lange dazu, diese musikhistorisch bedeutsamen Entwicklungen primär aus kompositionstechnischer und ästhetischer Perspektive zu diskutieren. Erweitert man jedoch den Blickwinkel, so wird deutlich, wie eng die musikalische Neuorientierung des Komponisten und die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Schönberg'schen Zwölftontechnik mit kulturpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, mit Fragen der Identität und der Deutungsmacht sowie mit der Erfahrung antisemitischer Anfeindungen verflochten sind.[6] […]

Unbeschwertes Komponieren wie in Jugendzeiten: Ein zwölftöniger Walzer

Die scheinbar paradoxe Devise, die Schönberg bei der Entwicklung der Komposition mit zwölf Tönen leitete, lautet: Befreiung aufgrund von Bindung. Nachdem er die neue Kompositionsweise ausgiebig erprobt hatte, schrieb er am 1. Dezember 1923 an den Wiener Komponisten Josef Matthias Hauer, der seit einigen Jahren ebenfalls mit zwölftönigen Kompositionsverfahren arbeitete: "Ich bin dadurch geradezu in der Lage so bedenkenlos und phantastisch zu komponieren, wie man es nur in der Jugend tut, und stehe trotzdem unter einer präzis benennbaren ästhetischen Kontrolle. […] Denn ich kann fast für alles Regeln geben."[7] Was das konkret bedeutet, zeigt das letzte der Fünf Klavierstücke op. 23. Es trägt den programmatischen Titel "Walzer" und entstand in der ersten Phase jenes Schaffensrausches, der Schönberg Anfang 1923 erfasste. Schon in der kurzen Entstehungszeit spiegelt sich die schaffenspsychologische Entlastung, die das neue Verfahren mit sich brachte. So komponierte Schönberg das Stück Mitte Februar innerhalb weniger Tage. Zusätzlich verstärkt wurde sein Arbeitseifer dabei auch durch äußere Faktoren. In wirtschaftlich prekären Zeiten war es ihm gelungen, mit einem dänischen Musikverlag einen lukrativen Vertrag über zwei neue Werke abzuschließen. Zugleich stand er bei seinem Hausverlag, der Wiener Universal Edition, nach wie vor in der Pflicht. So war er daran interessiert, den dänischen Auftrag rasch zu erfüllen – nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass das vereinbarte Honorar der Inflation zum Opfer fiel.[8]

Noten Schönbergs zwölftöniger Walzer - Stichplattenabzug mit Korrekturen des Komponisten | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Der zwölftönige Walzer op. 23, mit handschriftlicher Korrektur Schönbergs. Erste vier Takte: Grundform der Zwölftonreihe als Melodiestimme | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Der Walzer aus Opus 23 gehört zu den frühesten zwölftönigen Kompositionen Schönbergs. Während er in den vorausgehenden Stücken der Klaviersammlung mit kürzeren Tonfolgen arbeitet, legt er dem Schlusssatz eine Reihe zugrunde, die alle zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter umfasst. Das Zusammenspiel von Bindung und Freiheit zeigt sich dabei schon bei der Reihenkonstruktion. Bei der Tonauswahl gilt nach Schönberg die Regel, auf Tonwiederholungen zu verzichten und jede chromatische Stufe genau einmal zu verwenden. Dies soll auf der Ebene der Reihe eine Gleichberechtigung der verschiedenen Tonstufen gewährleisten und die unbeabsichtigte Entstehung tonaler Gravitationszentren vermeiden. Nicht reglementiert ist hingegen die Anordnung der Töne. So erfindet Schönberg für seinen Walzer eine zwölftönige Grundreihe, in der das Intervall der Terz eine prominente Rolle spielt. Dies ermöglicht ihm, im Verlauf des Stücks unterschwellige Verbindungen zur traditionellen Klangwelt des Wiener Walzers mit seiner Terzen- und Sexten-Seligkeit herzustellen, ohne dabei die selbst gesetzten Vorgaben durchbrechen zu müssen. […]

Tradition statt Revolution

Dass Schönberg das neue Kompositionsverfahren dazu nutzte, einen Walzer zu schreiben sowie eine Klaviersuite, deren Sätze nach barocken Tänzen benannt sind (Gavotte, Menuett, Gigue usw.), mag überraschen. Vertreter nachfolgender Generationen wie der junge Pierre Boulez, die die Zwölftontechnik von Schönberg und seinen Schülern – insbesondere Anton Webern – nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen und weiterentwickelten, sahen darin sogar eine ästhetische Schwäche. Sie kritisierten die Bezugnahme auf traditionelle Formen und Formkonzepte als rückwärtsgewandt und brandmarkten Schönbergs neuen Klassizismus als reaktionär. Dabei ließen sie allerdings außer Acht, dass Schönberg mit seiner Art der Zwölftonkomposition eine völlig andere Zielsetzung als sie selbst verfolgte. Klar zum Ausdruck kommt dies in einem Brief an den Schweizer Musikmäzen Werner Reinhart, in dem Schönberg im Juli 1923 pointiert formuliert: "Ich lege nicht sosehr Gewicht darauf ein musikalischer Bauernschreck zu sein, als vielmehr ein natürlicher Fortsetzer richtig verstandener, guter, alter Tradition!"[9]

Um sich das Komponieren mit Zwölftonreihen zu erleichtern, bastelte sich Schönberg sogenannte "Reihenschieber". Im Bestand des Arnold Schönberg Center befindet sich ein solches Werkzeug zum Bläserquintett op. 26. | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Zum Komponieren bastelte sich Schönberg sogenannte "Reihenschieber". Das abgebildete Werkzeug gehört zum Bläserquintett op. 26. | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Schönberg begriff die Zwölftontechnik also nicht als Mittel, um mit der Vergangenheit radikal zu brechen. Vielmehr war er bei jeder Gelegenheit darum bemüht, die Verbindungen zur Musik vorangegangener Epochen starkzumachen. Die apologetische Berufung auf die "Tradition" – und darunter verstand der Komponist in erster Linie die deutsche bzw. österreichische Musik – erfüllte in Schönbergs Narrativ eine mehrfache Zielsetzung. Indem er Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven, Brahms oder Wagner zu seinen "Lehrmeistern" erklärte, wollte er sein eigenes Komponieren und seine Innovationen historisch absichern. "Evolution statt Revolution", lautete in diesem Zusammenhang seine Devise.[10] Indem er darstellte, was er von den Klassikern übernommen und weitergeführt habe, wurden sie zugleich zu Garanten für die eigene historische Bedeutung erklärt. So resümierte er Anfang der 1930er-Jahre: "Ich maße mir das Verdienst an, eine wahrhaft neue Musik geschrieben zu haben, welche, wie sie auf der Tradition beruht, zur Tradition zu werden bestimmt ist."[11] Schließlich war er erpicht darauf, das ihm nach wie vor vorauseilende Image eines musikalischen Anarchisten, dem es primär um Tabubrüche und die Zerstörung altbewährter Ordnungssysteme gehe, endlich abzustreifen. "Ich war nie Revolutionär!", notierte er Ende September 1923 in der Anfangspassage eines Textentwurfs zur "Neuen Musik" und markierte den Satz mit einem dicken Strich.[12] Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in der Neuauflage seiner Harmonielehre klargestellt: "Ein Künstler, der eine gute neue Idee hat, ist nicht zu verwechseln mit einem Petroleur oder einem Bombenwerfer. […] Nie war es Absicht und Wirkung neuer Kunst, die alte, ihre Vorgängerin, zu verdrängen oder gar zu zerstören. […] Man kann das Auftreten des Neuen weit besser mit dem Blühen eines Baumes vergleichen." Die "Konservativen des Winters" – und damit meinte Schönberg zweifellos jene, die ihn als "Anarchisten", "Revolutionär" oder gar als "Musikbolschewisten" diffamierten – seien allerdings nicht in der Lage, dies zu erkennen. Sie verwechselten "Werden mit Umsturz" und glaubten, "wenn Neues aus Ehemals-Neuem sprießt, sei dies die Zerstörung des Alten."[13]

Arnold Schönberg - Zeichnung von Egon Schiele | Bildquelle: picture-alliance/akg Arnold Schönberg, Zeichnung von Egon Schiele, 1917 | Bildquelle: picture-alliance/akg Der zwölftönige Walzer aus Opus 23 steht exemplarisch für dieses Anliegen, kompositorische Innovation und Tradition miteinander zu verbinden. Dass der Komponist sein erstes Werk im neuen Stil ausgerechnet mit einem Walzer beschließt, ist allerdings nicht nur als Ausdruck seines Klassizismus zu werten, sondern kann darüber hinaus auch als kulturpolitisches und persönliches Statement verstanden werden. Walzerklänge begleiteten den in der Wiener Leopoldstadt nahe dem Prater geborenen Schuhmachersohn seit frühester Kindheit. Als kulturelle Topoi und emotional konnotierte Gesten durchziehen sie seine Werke in unterschiedlichen Varianten. Als Schönberg in seinem 2. Streichquartett op. 10 (1907/08) die Abkehr von der Tonalität einläutete, nutzte er die Form des Walzers, um im zweiten Satz des Werkes den radikalen Traditionsbruch mit einem musikalischen Zitat – dem Vers "Alles ist hin" aus dem bekannten Wiener Volkslied "O du lieber Augustin" – ironisch zu kommentieren. Im Bewusstsein dieser "Vorgeschichte" lag es gewissermaßen auf der Hand, als erstes zwölftöniges Stück einen Walzer zu veröffentlichen. Grundlegend geändert hatten sich in der Zwischenzeit allerdings die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen. Mit dem Untergang des Habsburgerreichs war der Wiener Walzer gesellschaftspolitisch zu einem Relikt der Vergangenheit geworden. Vor diesem Hintergrund lässt sich Schönbergs kompositorische Bezugnahme auf die Gattung in den frühen 1920er-Jahre auch als Ausdruck jener weit verbreiteten Sehnsucht nach der Wiederkehr einer unwiederbringlich verlorenen Welt deuten, die von Autoren wie Stefan Zweig oder Joseph Roth so eindrücklich beschrieben worden ist. Man denke an Franz Ferdinand Trotta, der in Roths vorletztem Roman Die Kapuzinergruft heimat- und gegenwartslos durch das neue Österreich streift, oder an den Grafen Morstin aus der späten Novelle Die Büste des Kaisers, der auch nach dem Zerfall des Vielvölkerstaats den steingewordenen Monarchen bei sich behält.

Es spricht viel dafür, dass Schönbergs nostalgischer Blick auf das Habsburger-Reich in den Nachkriegsjahren – ähnlich wie beim späten Roth – auch eine Verklärung des monarchischen Herrschersystems mit einschloss. Als er 1925 den berühmten Kaiserwalzer von Johann Strauß für Kammerensemble bearbeitete, webte er auf kunstvolle Weise die alte Kaiserhymne hinein. (In der Republik Österreich sang man in den 1920er-Jahren als inoffizielle neue Nationalhymne das vom ersten Staatskanzler Karl Renner selbst gedichtete Lied "Deutschösterreich, du herrliches Land".) Noch expliziter war Schönberg bereits im Mai 1923 geworden. Wenige Monate nach der Fertigstellung seines zwölftönigen Walzers verfasste er einen Text mit dem Titel "Gedanken zur Geschichte der Habsburger". In dem merkwürdigen Beitrag, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, verlieh er seinem Glauben Ausdruck, "dass die Habsburger wiederkehren" und "an der Stelle des alten Reiches, ein neues, grösseres gründen" würden.[14] Während er im Gebiet der Kunst trotz aller Bemühungen, die Traditionsverhaftung seiner musikalischen Neuerungen herauszuarbeiten, eine Rückkehr in die "Welt von gestern" ausschloss, war er politisch nach wie vor der alten Ordnung verbunden und sehnte zumindest zwischenzeitlich ihre Restitution herbei.

Arnold Schönberg mit Anzug und Trauerband, vermutlich am Tag des Begräbnisses seiner Frau | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Schönberg mit Trauerband | Bildquelle: © Arnold Schönberg Center, Wien Ob viele der rund 350 Personen, die Ende September 1923 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Uraufführung der Fünf Klavierstücke op. 23 erlebten, die Traditionsverhaftung von Schönbergs neuem Stil tatsächlich wahrnahmen, lässt sich bezweifeln. Die Resonanz auf die keineswegs eingängige Musik scheint im Vergleich zu früheren Schönberg-Premieren allerdings äußerst positiv gewesen zu sein. Interpret der Uraufführung war der aus Galizien stammende 31-Jährige Eduard Steuermann, der seit 1912 zum Schönberg-Kreis gehörte und rasch zu einem der wichtigsten Interpreten der Wiener Schule wurde. "Steuermann habe ich niemals so spielen hören wie gestern", berichtet Josef Rufer, der die Konzertreihe für "Neue Musik" in der Hansestadt nach dem Modell des Vereins für musikalische Privataufführungen mitbegründet hatte, seinem Lehrer: "Die Leute waren einfach 'platt' wie man hier sagt."[15]

Während Schönbergs dodekaphoner Walzer das erste Mal öffentlich erklang, wachte der Komponist 850 Kilometer südöstlich am Bett seiner totkranken Frau. Nicht einmal drei Wochen später starb Mathilde Schönberg – die Schwester von Schönbergs Lehrer und Freund Alexander Zemlinsky. Das Jahr, das die Überwindung der schöpferischen Krise brachte, war für den Komponisten damit zugleich zu einem Jahr des persönlichen Verlusts geworden. […]

Zum Autor Tobias Bleek

Tobias Bleek leitet das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr und ist Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste. Sein Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme" erschien im April 2023 bei Bärenreiter/Metzler. Beim Klavier-Festival Ruhr 2023 kuratiert er eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. An der Gestaltung des BR-KLASSIK-Programmschwerpunkts "Der wilde Sound der 20er" ist er als konzeptioneller Berater beteiligt.

Zum Buch

Buch-Cover "Im Taumel Sound der Zwanziger" | Bildquelle: Bärenreiter Metzler Buch-Cover "Im Taumel der Zwanziger" | Bildquelle: Bärenreiter Metzler Tobias Bleek:
Im Taumel der Zwanziger
1923: Musik in einem Jahr der Extreme
320 Seiten; mit Abbildungen
Hardcover
Bärenreiter/Metzler
BVK02519
April 2023 erschienen

Anmerkungen

Zitiert werden Schönbergs Korrespondenz und seinen Schriften, sofern nicht anders angegeben, aus den online verfügbaren Quellen des digitalen Archivs des Arnold Schönberg Centers Wien.

[1] Neues Wiener Journal, 13.3.1923, S. 9.
[2] Ebd., S. 10.
[3] Das teure Gerät, das Schönberg die mühsame Schreibarbeit erleichterte, sein schriftliches "Output" signifikant erhöhte und der Nachwelt zugleich die Lektüre erleichterte, wurde dem "verehrten Meister ARNOLD SCHÖNBERG zu Weihnachten 1922" unter anderem von Hanns Eisler, Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann geschenkt. Vgl. Dümling, "Schönberg und sein Schüler Hanns Eisler", S. 434 f.
[4] Schönberg an Emil Hertzka, 13.3.1923.
[5] Vgl. John, Musikbolschewismus, S. 109.
[6] Vgl. hier und im Folgenden insbesondere Ulrich Krämer, "Une grande portée morale …" sowie ders., "Schönbergs Mission zur Rettung der Tonkunst"; Therese Muxeneder, "Arnold Schönbergs Verkündung der Zwölftonmethode" sowie dies., "Arnold Schönbergs Konfrontation mit dem Antisemitismus (III)".
[7] Schönberg an Hauer, 1.12.1923.
[8] Schönberg an Zemlinsky, 12.2.1923.
[9] Schönberg an Werner Reinhart, 9.7.1923.
[10] Vgl. Schönberg, "Wie man einsam wird" (1937), in: ders., Stil und Gedanke, S. 355.
[11] Schönberg, "Nationale Musik" (1931).
[12] Schönberg, "Neue Musik", Typoskript, 29.9.1923, Bl. 1.
[13] Schönberg schloss die Arbeit an der Neuauflage der 1911 erstmals veröffentlichten Harmonielehre im Juni 1921 in Mattsee ab. Die revidierte Edition erschien 1922 bei der Universal Edition. Zitat auf S. 479 f.
[14] Schönberg, "Gedanken zur Geschichte der Habsburger" (1931), Typoskript, S. 2.
[15] Josef Rufer an Schönberg, 29.9.1923.

Sendungen: "Was heute geschah" in Allegro am 30. März um 7:40 Uhr auf BR-KLASSIK

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