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Der wilde Sound der 20er

Experimente im Rundfunk Wie Brecht, Weill und Co. das Radio aufmischten

Bertold Brecht, Kurt Weill und Paul Hindemith – dieses Who's Who der damaligen Avantgarde tat sich in den Zwanzigern zusammen, um ein durch und durch zeitgemäßes Stück zu komponieren: "Der Lindberghflug" – eine Hommage an die Pionierleistung des Ozean-Überfliegers Charles Lindberg.

Bert Brecht, Lotte Lenya und Kurt Weill im Jahr 1928 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images | akg-images

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Schwanenritter, Undinen und Wolfsschluchten hatten ausgedient als Stahlwerke, Fabriken, Schnellzüge und Automobile den modernen Alltag zu prägen begannen. Der rasante technische Fortschritt wurde für Komponisten der 1920er-Jahre mehr und mehr zum künstlerischen Thema. Plötzlich wurde auf der Opernbühne mit Radio, Schreibmaschine und Telefon hantiert, Bahnhöfe wurden zu Handlungsorten, moderne Fortbewegungsmittel kurvten aus den Kulissen. Im Konzertsaal ging es nicht weniger temporeich zu, seit Arthur Honegger 1924 in seinem berühmten "Pacific 231" eine 300 Tonnen schwere Lokomotive durch die Nacht rasen ließ.

Neue Musik in neuen Medien

Parallel zu dieser inhaltlichen Neuorientierung in der Musik stellte sich die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Positionierung. Das erst 1923 geborene Medium des Rundfunks zielte auf eine breite Öffentlichkeit, doch was wollte und konnte man der ständig wachsenden Hörerschaft eigentlich anbieten? Feuilletons und Radiozeitschriften forderten spezifisch geeignete Neukompositionen, die schon durch ihre Besetzung den damaligen übertragungstechnischen Möglichkeiten Rechnung tragen sollten. So erhielten Bläser oft den Vorzug gegenüber Streichern, die in Live-Übertragungen klanglich weniger gut abzubilden waren. Gehobene Unterhaltungsmusik galt als ästhetisches Vorbild, schließlich richtete sich der Rundfunk nicht nur an ein bildungsbürgerliches Publikum mit Opern- oder Konzertabo. Solche genuinen Radiomusiken entstanden ab 1924, etwa mit Ernst Kreneks "Radio Blues", Paul Hindemiths "Anekdoten für Radio" oder Franz Schrekers "Suite für Kammerorchester". Hörspiele mit Musik und Funkopern kamen als neue, radiophone Gattungen hinzu.   

Kurt Weill beteiligte sich seit 1925 als Chefkritiker der Wochenzeitschrift "Der deutsche Rundfunk" aktiv an der Diskussion um Möglichkeiten und Aufgaben der Musik im Radio. Kein Wunder, dass er wesentlich an einem Werk beteiligt war, das die Forderungen nach neuen Inhalten und Rundfunktauglichkeit exemplarisch vereinte: "Der Lindberghflug" von 1929 behandelt die erste Nonstop Alleinüberquerung des Atlantiks durch den US-Piloten Charles Lindbergh, die zwei Jahre zuvor als mediale Weltsensation gefeiert worden war. Geschrieben wurde das Stück für das Musikfest "Deutsche Kammermusik Baden-Baden", denn diese Interimsausgabe der "Donaueschinger Musiktage" stand unter dem Motto "Originalmusik für den Rundfunk". Darunter waren – laut Programmheft – Werke zu verstehen, die "einerseits dem augenblicklichen Stand der Rundfunktechnik […] Rechnung tragen, andererseits stilistisch darauf Rücksicht nehmen, dass Radiomusik sich nicht an eine bestimmte Gesellschaftsschicht, sondern an den Menschen schlechthin wendet".

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Charles Lindbergh vor seinem Flugzeug "Spirit of St. Louis" im Jahr 1927 | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Kurt Weill, Bertolt Brecht: Der Lindberghflug - Ozeanflug (1929, Fernsehinszenierung 1992)

Ein Gemeinschaftswerk von Brecht, Weill und Hindemith

Textautor der sogenannten radiophonischen Kantate "Der Lindberghflug" war kein anderer als Bertolt Brecht, der im Vorjahr mit Kurt Weill durch Die Dreigroschenoper einen Sensationserfolg gelandet hatte. Nun schilderte er die Pionierleistung Lindberghs aus verschiedenen, teilweise sehr ungewöhnlichen Perspektiven. Nicht nur der Flieger selbst kommt zu Wort, sondern auch amerikanische Zeitungen, die Stadt New York und der europäische Kontinent. Eine Stimme erhalten auch der Nebel, der Schneesturm und der Schlaf, mit denen Lindbergh während seines 33 stündigen Fluges von New York nach Paris zu kämpfen hat. Auch gibt es ein Gespräch des Piloten mit seinem Motor, in dem er sich nach Kühlung und der Ölversorgung erkundigt und am Ende die Frage stellt: "werden wir es schaffen? wir zwei?" Diese gleichsam kameradschaftliche Beziehung Lindberghs zu seiner einmotorigen Maschine "Spirit of St. Louis" ist aus dessen autobiographischem Bericht übernommen, der programmatisch den Titel "We" ("Wir zwei") trug. Dies entsprach der Haltung Brechts, dem es nicht um die Heroisierung eines Einzelnen ging, sondern um die kollektive technische Leistung des Menschen bei der Beherrschung der Naturgewalten.

Die Betonung des Kollektivgedankens spiegelte sich auch in der konkreten künstlerischen Umsetzung wider: Brechts Text war Anfang 1929 abgeschlossen und ursprünglich für Kurt Weill bestimmt. Doch dann wurde entschieden, dass im Sinne der damals propagierten „Gemeinschaftsmusik“ auch Paul Hindemith als einer der führenden Köpfe des Kammermusikfests Baden-Baden an der Komposition beteiligt werden sollte. Brechts Dichtung ließ sich durch ihren reportageartigen Charakter leicht aufteilen, so dass Weill und Hindemith etwa gleich viele Nummern vertonten. Jeder auf seine Weise: Dass Hindemith "von der Seite des Kontrapunkts, Weill vom fast tänzerisch Rhythmischen à la Dreigroschen-Oper" komme, wie ein Rezensent bemerkte, wurde nicht als Nachteil empfunden.

Erst im Konzertsaal, dann im Radio

"Der Lindberghflug" galt das herausragende Ereignis des Baden-Badener Festivals: Am 27. Juli 1929 wurde die Aufführung zu Demonstrationszwecken für das Publikum vor Ort durch Lautsprecher in umliegende Säle übertragen. Motorenknattern, Sirenen, Großstadtlärm, Funkmorsezeichen und Windgeräusche erweiterten die Musik zum Hörbild. Hermann Scherchen, der damals wohl engagierteste Förderer Neuer Musik, stand am Pult. Der "Sprecher" war Paul Laven, ein sehr beliebter Rundfunkreporter, der bei Lindberghs Ankunft in Paris dabei gewesen war und darüber berichtet hatte. Die Ausstrahlung erfolgte am 29. Juli über den Sender Frankfurt.  

Der wilde Sound der 20er

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In einer weiteren Aufführung demonstrierte Bertolt Brecht seine Vorstellung einer möglichen Hörerbeteiligung im neuen Medium. Die Bühne war in zwei Hälften geteilt: auf der einen Seite waren Ensemble, Chor und Sprecher platziert, die den "Radioapparat" vorstellen sollten; auf der anderen saß Opernsänger Josef Witt als Stellvertreter des "Hörers" und übernahm die Partie des Lindbergh. Statt passiv zu rezipieren, sollte das Rundfunk-Publikum zum "Mitmachen" aufgefordert werden und das Werk in den eigenen vier Wänden aktiv vervollständigen. Diese Idee führte zu Sendeformaten wie "Volksliedsingstunden" für Erwachsene, "Singstunden für Kinderstube und Kindergarten" sowie der Kammermusiksendung "Musizieren mit unsichtbaren Partnern", bei der die ausgesparten Parts vom Laienmusiker zu Hause ergänzt werden sollten – eine Art Karaoke mit Bildungsauftrag.

Wegen Nazi-Verstrickungen: Brecht streicht Lindbergh aus dem Stück

Trotz des weitgehend positiven Presse-Echos zu "Der Lindberghflug" war Kurt Weill mit der stilistischen Divergenz der "Gemeinschaftsmusik" unzufrieden. Noch im selben Jahr ersetzte er alle von Hindemith vertonten Nummern durch Eigenkompositionen. Diese auch textlich durch Brecht überarbeitete Version wurde am 5. Dezember 1929 in der Staatsoper Berlin unter Otto Klemperer uraufgeführt. In einer letzten Fassung von 1949/50 unter dem Titel "Der Ozeanflug" ersetzte Brecht den Namen Charles Lindberghs durch "der Flieger", denn seiner Ansicht nach hatte sich der Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs als Sympathisant der Nationalsozialisten erwiesen. In welcher Fassung auch immer: Die "radiophonische Kantate" ist aufgrund der komplexen Anforderungen, wohl auch aufgrund der rasanten Entwicklung anderer moderner Medien immer nur vereinzelt zur Aufführung gelangt. Letztlich blieb "Der Lindberghflug" ein spannendes Experiment aus den Pioniertagen des Rundfunks.

Sendung: "Allegro" am 27. Juli ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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