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Der italienische Jazztrompeter Enrico Rava wird 80 Klare Stimme der musikalischen Freiheit

Eigentlich wollte er Dixieland-Posaunist werden. Doch dann hörte er Miles Davis und Chet Baker, stieg um auf die Trompete – und wurde zu einem europäischen Jazzweltstar. Am 20. August wird Enrico Rava 80 Jahre alt.

Trompeter Enrico Rava | Bildquelle: Roberto Cifarelli/ECM Records

Bildquelle: Roberto Cifarelli/ECM Records

Ein Mann mit langem Silberhaar, einem Riesenbalken von Schnurrbart und markant eckigen, schwarzen Augenbrauen. Schlaksig wirkt er, wenn er auf der Bühne steht - in den häufigen Momenten, in denen er nicht selbst spielt, sondern den anderen in der Band zuhört. Die Trompete - oder wahlweise das Flügelhorn, das er jetzt häufiger spielt - hängt dann mit dem Schalltrichter nach unten in Kniehöhe an seiner linken Hand. Entspannte Schultern, den Kopf leicht nach unten geneigt, versenkt er sich in die Musik seiner Kollegen. Und das tut er oft - nicht etwa, weil er heute weniger spielen würde als früher, sondern weil er einer derjenigen Musiker ist, die besonders darauf achten, dass die Mitglieder seiner Band genauso häufig als Solisten zu ihrem Recht kommen wie er. Das ist Enrico Rava, wie man ihn kennt. Ein Sensibler, ein Neugieriger auf ständiger musikalischer Entdeckungsreise. Ein Rücksichtsvoller. Und wenn er selbst spielt: ein grandioser Solist mit strahlendem, klarem, dabei geschmeidigem Ton, der sich über weite, berückend schöne Melodielinien erstrecken kann.

Ein Zufall in Triest

Enrico Rava ist Meister einer Musik mit eigenem Sound, eigenem Stil,  eigener Seele. Seit über vier Jahrzehnten ist er weltbekannt für eine Musik von besonderer Aura. Am 20. August 1939 wurde er in Triest geboren, durch Zufall in jener Stadt ganz im Nordosten Italiens, weil sein Vater dort gerade eine Zeitlang beruflich zu tun hatte. Seine Familie stammte aus dem Piemont und zog schließlich nach Turin, wo Rava aufwuchs. Er fing autodidaktisch an, Posaune zu lernen und spielte in einer Dixieland-Kapelle - bis er Aufnahmen der beiden großen amerikanischen Trompeter Miles Davis und Chet Baker hörte, die ihn sofort mitrissen. Da wechselte er das Blechblasinstrument, gab die Posaune auf und machte das höhere, heller klingende Blasinstrument zu seiner Stimme.

"Forest", "Zoo", New York und Carlas "Escalator"

Rava wurde schnell erfolgreich, ging in den frühen sechziger Jahren nach Rom, spielte dort mit so bedeutenden Kollegen wie den beiden Saxophonisten Gato Barbieri und Steve Lacy zusammen. In der Band von Steve Lacy, einem besonders ernsthaften, feinen Musiker auf steter Suche nach neuen Ausdrucksformen, nahm Rava 1966 das bedeutende Free-Jazz-Album "The Forest and The Zoo" auf. 1967 ging er für einige Jahre nach New York und setzte sich in der dortigen Szene fest, spielte mit Musikern wie dem Saxophonisten Lee Konitz und der Komponistin Carla Bley, auf deren Jahrhundertwerk, der 1971 veröffentlichten Jazz-Oper "Escalator Over The Hill", Rava neben vielen anderen hervorragenden Musikern zu hören ist.

Der Pilger spielt zu den Sternen

Seinen Durchbruch als bis heute, also über vierzig Jahre lang erfolgreicher Bandleader markierte ein Album, das 1975 erschien: "The Pilgrim and The Stars" (der Pilger und die Sterne) mit dem amerikanischen Gitarristen John Abercrombie und den beiden skandinavischen Musikern Palle Danielsson, Bass, und Jon Christensen, Schlagzeug. Rockig-bluesiger Background - darüber starke melodische Linien. Musik von 1975. Aufgenommen in Deutschland, und zwar in Stuttgart von einem in München ansässigen Label. Musik mit weitem Horizont, geschrieben von einem, der in New York und in Buenos Aires gelebt und mit vielen ausdrucksstarken Kollegen zusammengearbeitet hatte. Im Innencover reckt der damalige Mittdreißiger Rava, noch mit pechschwarzem Haar und bereits da mit eckig-auffälligem Schnurrbart, seine Trompete in die Höhe - als wolle er sagen: Die Musik ist für mich der Himmel, kommt mit und schaut mit mir, was dort zu finden ist.

Der wilde Tanz mit den musikalischen Enkeln

Giovanni Guidi, Enrico Rava, Dezron Douglas, Joe Lovano und Gerald Cleaver beim Konzert am 10. November 2018 in Rom. | Bildquelle: Roberto Cifarelli/ECM Records Giovanni Guidi, Enrico Rava, Dezron Douglas, Joe Lovano und Gerald Cleaver beim Konzert am 10. November 2018 in Rom. | Bildquelle: Roberto Cifarelli/ECM Records Seitdem hat Enrico Rava, dieser italienische Kosmopolit, viele Alben mit immer wieder neu besetzten eigenen Bands aufgenommen - vor vier Jahren etwa "Wild Dance" mit Musikern, von denen einige seine Enkel sein könnten. Der Gitarrist Francesco Diodati etwa wurde 1983 geboren, ist also 44 Jahre jünger als Rava. Noch zwei Jahre jünger ist der Pianist Giovanni Guidi. Guidi ist auch auf der aktuellen CD mit dabei, die Rava im November 2018 in Rom mit dem großen amerikanischen Saxophonisten Joe Lovano und weiteren Kollegen aus den USA einspielte: live im Giusseppe-Sinopoli-Saal im Auditorium Parco della Musica in Rom. "Roma" heißt denn auch das Album. Pianist Giovanni Guidi und Gitarrist Francesco Diodati gehören heute zu den besonders ausdrucksstarken jungen Europäern des Jazz.

Stefano hatte wirklich nichts anderes vor

Besonders begabte junge Musiker sind durch die Schule des Trompeters Enrico Rava gegangen. Zu ihnen gehört auch ein Pianist, der jetzt längst zu den gefeierten europäischen Stars des Jazz und der jazzverwandten Musik zählt: der Wirbelwind und musikalische Tausendsassa Stefano Bollani. Rava hörte ihn einst zufällig in einem Konzert, ließ sich seinen Namen geben - und einige Zeit später rief er ihn an und lud ihn zu Aufnahmen einer neuen CD an. Dies allerdings in dem für ihn typischen, ungemein rücksichtsvollen Ton, mit den Worten: "aber nur, wenn Sie wirklich wollen und auch noch nichts anderes vorhaben". Bollani erzählte später: "Selbstverständlich hatte ich nichts anderes vor: Ich konnte mir doch die Chance meines Lebens nicht entgehen lassen." Bereits als Jugendlicher hatte Stefano Bollani den Trompeter bewundert - und er gehörte für ihn zu den Weltstars, genau wie die großen Amerikaner Sonny Rollins oder Chet Baker.

Bloß nicht die Musik der eigenen CDs kopieren

Enrico Rava, der auch Opernarien von Puccini und Songs von Popstar Micael Jackson in eigenen, instrumentalen Jazzversionen aufnahm, gibt als musikalisches Credo folgendes aus: "Was ich besonders mag, in meinen Bands, ist, überrascht zu werden, von mir selbst und von meinen Mitspielern, ich bin immer auf der Suche nach dem Unerwarteten, in jeder Band, die ich habe." Und er sagt auch: "Ich möchte in Konzerten auf keinen Fall die Musik meiner CDs kopieren, die Stücke sollen jeden Abend anders klingen - sonst kann ich ja gleich eine CD auflegen und nach Hause gehen."

"La storia del mio jazz"

Enrico Rava  | Bildquelle: Leo Claudio De Petris-dpa Bildquelle: Leo Claudio De Petris-dpa Enrico Rava: ein Musiker, der die Ohren offen hält und gern von jungen Kollegen lernt. Und der im Gegenzug etwas erzählen kann: Rava hat eine Autobiographie von enormem Sprachwitz geschrieben, in der er viele andere Musiker, die seinen Weg kreuzten, sensibel porträtiert. "Incontri con musicisti straordinari" heißt dieses Buch. Der Titel ist bescheiden und bedeutet: "Begegnungen mit außergewöhnlichen Musikern". Erst im Untertitel bringt Rava sich selbst ins Spiel: "La storia del mio jazz" - die Geschichte meines Jazz (Verlag Feltrinelli, 2010). Wenn man in diesem Buch liest, sieht man Rava vor sich, so, wie man ihn auf Bühnen erleben kann - oder aber, wie er vor einem sitzt, wenn man die Gelegenheit hat, ihn zu interviewen: ein ungemein freundlicher, augenzwinkernd humorvoller Mann, der sich Worte auf der Zunge zergehen lässt und der es offenbar liebt, feine Gedanken mit ebensolchem Sprachwitz zu formulieren. Es sind die frei beweglichen Gedanken von einem, der nie nur neugierig auf die Musik war, sondern auch auf die Welt - und auf die Menschen. Sein Buch ist ein Meisterstück gelassener Gedankenfreiheit.

"Blues - was soll das sein?"

Musikerkollegen porträtiert Rava in seinem Buch hinreißend augenzwinkernd, etwa den Posaunisten Dino Piana, dem er im Jahr 1960 zum ersten Mal begegnete. Später wurde dieser Posaunist sehr bekannt in Italien, damals war er es nicht. Rava erzählt von einer Jamsession, die er und seine Freunde damals an einem Sonntagvormittag machten. Da kam plötzlich ein junger Typ mit dunklen Kettenraucher-Augenringen daher, dem ein anderer eine Ventilposaune ohne Koffer hinterhertrug. Der Mann mit den Augenringen fragt: Könnte ich ein Stück mit Euch spielen. Rava antwortet: Ja klar, gern, wie wär’s mit einem Blues in F? Was ist das, ein Blues?, fragt der andere, und einer aus der Band spielt ihm dann das Blues-Schema vor. Ach so, sagt der Augenring-Mann dann lächelnd und erleichtert und fügt in, wie Rava schreibt, piemontesischem Akzent hinzu: "A l’è ‚l gir dal boogie". Auf Deutsch etwa: Das sind ja die Akkorde eines Boogie Woogie. Und dann spielte dieser Posaunist, der noch nie etwas vom Blues gehört hatte, so flüssige und logische Linien, dass alle andern ganz baff waren. Mehr als vierzig Jahre später schrieb Enrico Rava in Erinnerung an diese Episode ein Stück, das er "Algir Dalbughi" nannte. Eines seiner schönsten - der Titel liest sich nicht sehr italienisch und gibt Rätsel auf, wenn man die dazugehörige Geschichte nicht kennt. Aber in dem Stück steckt sehr viel Boogie - und ganz eigener Witz.

"Coltrane ist tot"

Eine besonders traurige Episode erzählt Enrico Rava auch. Man schreibt den 17. Juli 1967. Das ist der Tag, als der Saxophonist John Coltrane im Alter von 40 Jahren stirbt: ein Schock für die damalige Jazzwelt. Rava erfährt es von dem Schlagzeuger Aldo Romano am Telefon. Als der Trompeter den zu jener Zeit bei Rava wohnenden Schlagzeuger anruft, um zu sagen, dass er nach einem Studiotermin etwas später nach Hause komme, meldet sich ein schluchzender Aldo Romano. Er sagt nur: "Coltrane ist tot" und legt sofort wieder auf. Zur selben Zeit waren auch die beiden deutschen Musiker Rolf und Joachim Kühn in New York. Mit ihnen und dem Bassisten Jimmy Garrison aus John Coltranes Band nahm Aldo Romano damals eine Platte auf. Auch die Kühn-Brüder erzählen noch heute, wie sehr dieser 17. Juli 1967 ein Schock für sie war. Ihr sehr bewegender Zeitzeugen-Bericht deckt sich mit dem von Enrico Rava. Worte eines Musikers, der von vielen Jahrzehnten Jazzgeschichte so farbenreich erzählen kann wie nur die wenigsten - und der selbst Jazzgeschichte ist. Sowie: äußerst lebendige, vielfarbige Gegenwart.

Enrico Rava auf BR-KLASSIK

Jazztime, 19. August 2019: Jazztoday – Weltberühmte musikalische Stimme der Gedankenfreiheit: Der Trompeter Enrico Rava, der weltweit berühmteste Jazzmusiker aus Italien, wird am 20. August 2019 achtzig Jahre alt. Hommage an ein aufregendes musikalisches Leben in Italien, Argentinien und den USA. Mit Auszügen aus Interviews und Querverweisen auf besondere Passagen in Ravas Autobiographie.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel

Konzert-Hinweis

Enrico Rava tritt am 10. Oktober, 20:00 Uhr, bei "Birdland Radio Jazz Festival" im Audi Forum Ingolstadt auf. Informationen dazu finden Sie hier.

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