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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 6 Hören wir Gutes und reden darüber!

In Corona-Zeiten haben Jazz-Alben einen neuen Stellenwert erhalten: Nicht in Konzerten erreichen Musikerinnen und Musiker ihr Publikum, sondern mit Aufnahmen. Wir stellen vier besondere CDs vor.

Julian Hesse Trio - Troubleshooter | Bildquelle: HGBS Blue Records

Bildquelle: HGBS Blue Records

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 6" hier zum Nachhören – mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel zum sechsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Julian Hesse Trio: "Troubleshooter", HGBS Blue Records HGBSBLUE20205 (LC 51353)

Mut zur Lücke beweisen Trompeter Julian Hesse, Kontrabassist Peter Cudek und Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber auf dem neuen Album "Troubleshooter". Die Besetzung mit Trompeter, Bass und Schlagzeug ist ungewöhnlich, denn zwischen dem hohen Blechblasinstrument und dem tiefen Kontrabass-Fundament entsteht eine Lücke, die konventioneller Weise ein Klavier oder eine Gitarre mit Akkorden auffüllt. Beim neuen Julian Hesse Trio fehlen aber diese Füll-Harmonien und das ist der besondere Reiz. Die drei wissen mit diesen musikalischen Räumen umzugehen, selten werden die Räume wirklich dicht gemacht, meist entfalten sie eine spannungsreiche Wirkung. Das Album "Troubleshooter" hat durchweg einen erzählerischen Charakter, wie in einer respektvollen, offenen Konversation, begegnen sich die Spieler. Sie hören sich zu, lassen sich ausreden und geben sich auf musikalisch konstruktive Art Kontra. Ein Hörgenuss!

NILS WOGRAM: "MUSE", nwog 041 (LC 77779)

Nils Wogram - Muse | Bildquelle: nwog Records Nils Wogram - Muse | Bildquelle: nwog Records Subtilste Klangverschmelzungen der ungewöhnlichen Art erwarten das Ohr, wenn man es spitzt um dieser kammermusikalischen Einspielung zu lauschen. Dabei ist es gar nicht so leicht, jedes der vier bis fünf beteiligten Instrumente immer gleich zu erkennen. Sicher, die Posaune von Nils Wogram, der die 62 Minuten Musik komponiert hat, ist in fast jeder ihrer Spielarten gut identifizierbar - vom Growl bis zum leuchtenden Melodieton. Ebenso wie Kathrin Pechlofs Harfe. Doch im bestechend schönen Gesamtklang verbinden sie sich derart mit dem schlanken, flötenartigen Ton von Hayden Chisholms Altsaxophon und der Viola von Gareth Lubbe, dass man auch sie manchmal erst in den Soli eindeutig erkennt. Im höchst verfeinerten Miteinander der ausziselierten Töne manövriert das Quartett in dreizehn Kompositionen durch Nils Wogram zutiefst eigenständige Verquickung der Musikwelten. Aus klassischen Kompositionstechniken, osteuropäischen Rhythmen, Impressionismus, afro-amerikanischer Musiktradition und vielem mehr gestaltet der vielfach preisgekrönte Ausnahmemusiker einen ganz eigenständigen Kosmos der musikalischen Zusammengehörigkeit. Aus dem heraus erklingen - wie aus einer anderen Welt kommend - bisweilen auch sphärenhafte Melodien, die nicht auf einem Instrument gespielt werden, sondern der hohen Kunst des Obertongesangs entspringen, die Gareth Lubbe exzellent beherrscht. Das ist Musik, die einen enormen Zauber entfaltet und wirklich so klingt, als seien alle an ihr Beteiligten definitiv von der Muse geküsst.  

Craig Taborn: "Shadow Plays", ECM 2693 (LC 02516)

Craig Taborn - Shadow Plays | Bildquelle: ECM Records Craig Taborn - Shadow Plays | Bildquelle: ECM Records Ganz langsam tastet sich diese Musik zu ihrem eigenen Kern vor. Der Anfang: ein minutenlanges, langsames Trillern in derselben Tonlage, bis  dann Akzente in den Basstönen herausstechen und die Musik allmählich Form gewinnt. Der amerikanische Pianist Craig Taborn, geboren 1970 in Detroit, ist, wie man hier Stück für Stück erleben kann, ein Meister der spontan entwickelten Form. Diese Aufnahme stammt vom 2. März 2020 aus dem Wiener Konzerthaus. Live wagte sich Taborn hier an eine durchgehend feie Improvisation. Sieben Stücke hört man auf dem Album, das erste dauert 17 Minuten, das letzte sieben. Und es wirkt so, als könne man solch eine Musik nur spielen, wenn man sie vorher in viele Details hinein genau durchdacht hat. Craig Taborn ist es laut seinem Plattenlabel aber darum gegangen, wirklich ganz aus dem Moment zu schöpfen – und etwa auch nicht auf Motive und Patterns zurückzugreifen, die zu seinem Grundrepertoire gehören. Er scheint dabei noch radikaler vorzugehen als etwa Keith Jarrett oder Cecil Taylor, bei deren langen Improvisationen immer wieder auch Vertrautes aufschien. Bei ihm: nirgends Versatzstücke aus einem möglichen Baukasten, sondern ein Entdecken von Klängen und ein späteres Schaffen von Querbezügen, die beim Zuhören eine immer stärkere Sogkraft entwickeln. Ein ganz radikaler, hoch konsequenter Musiker, den man etwa aus der Zusammenarbeit mit berühmten Avantgardisten wie Dave Douglas und Roscoe Mitchell kennt, aber auch bereits seit langem mit hervorragenden eigenen Aufnahmen, etwa mit seinem Trio, oder solo, jedoch im Studio, bei dem ebenfalls exzellenten Album "Avenging Angel" von 2011. Eine packende Jazzklavier-Stimme für Liebhaber nicht eingetretener Pfade - was ja eigentlich alle Jazzfans im Grunde sind.

Borderlands Trio: "Wandersphere", Intakt Records CD370 (LC 11265)

Borderlands Trio - Wandersphere | Bildquelle: INTAKT Records Borderlands Trio - Wandersphere | Bildquelle: INTAKT Records Das "Borderlands Trio" bewegt sich in Grenzgebieten: Zwischen Improvisation und Komposition, zwischen Melodie und Geräusch, zwischen freiem Puls und erdigem Groove.
Die kanadische Pianistin Kris Davis, der amerikanisch-französische Bassist Stephan Crump und der New Yorker Drummer Eric McPherson gingen am 11. Dezember 2020 zusammen ins Studio und spielten einfach drauflos. Ein Doppelalbum mit 116 Minuten Musik ist daraus entstanden. Klänge zum Eintauchen sind das. Es gab weder Vorgaben noch Noten, aber die drei entwickeln teils über 40-minütige Bögen hinweg eine Spannung, die fasziniert. Die Musik ist dabei überraschend tonal, nach typischem Freejazz klingt das Album "Wandersphere" eigentlich nie. Eric McPherson grooved durchgehen, selbst wenn er nur einen Soundteppich unter die Akzente von Bass und Klavier legt. Stephan Crumps Bass ist häufig Melodieinstrument und Kris Davis Klavierspiel balanciert zwischen kantiger Angriffslust und feingezeichneten Tastenlinien.
"Wandersphere" ist allein aufgrund seiner Länge und Großteiligkeit, insgesamt sind es vier Tracks auf zwei CDs, ein Album, das herrlich aus der Zeit fällt. Das ist Erholung, Anregung und Inspiration für die Ohren.

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