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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 30 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 30. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Cover - Chris Potter/ Brad Mehldau/John Patitucci/ Brian Blade: Eagle´s Point | Bildquelle: Edition Records

Bildquelle: Edition Records

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 30" hier zum Nachhören.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum dreißigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Chris Potter/ Brad Mehldau/John Patitucci/ Brian Blade: "Eagle´s Point" (Edition Records)           

Alle Musiker, die der amerikanische Saxophonist Chris Potter im Jahr 2022 für dieses Album zu einem gemeinsamen Studiotermin eingeladen hat, sind Giganten und beständige Größen des Modern Jazz. Zwei davon sind wie er Anfang der 1970er Jahre geboren und schon während ihres Musikstudiums zu Jazzstars geworden: Der unwahrscheinlich vielseitige Schlagzeuger Brian Blade, den alle in ihrer Band haben wollen - von den Saxophonisten Joshua Redman und Wayne Shorter bis zu den Singer-Songwriter Größen Joni Mitchell und Norah Jones - , und der Pianist Brad Mehldau, der mit seinem bahnbrechenden Trio jüngere Jazzgeschichte geschrieben hat, und in seiner Musik gerne über die Essenz klassischer und popmusikalischer Genres reflektiert. Mit dem 1959 geborenen Bassisten John Patitucci, der im Besonderen durch seine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Pianist Chick Corea bekannt ist, wird diese monumentale Band komplett. Interpretiert werden acht Kompositionen von Chris Potter, der als junger Mann in den Bands von Schlagzeuger Paul Motian, Bassist Dave Holland und Trompeter Dave Douglas mit atemberaubenden, hochmusikalischen Soli zu einer Leitfigur für nachkommende Generationen von Saxophonist:innen wurde. Auch seine Erkrankung an Morbus Ménière, durch die er auf dem linken Ohr taub wurde, hat seine spielerische Strahlkraft nicht geschmälert. Sein Stil ist ungeheuer beweglich und bei aller Tonfülle nie überladen, sondern von besonderer erzählerischer Stärke. Seine Stücke leben von interessanten akkordischen Fortschreitungen in zum Teil langen Themen-Formen kombiniert mit herrlich gesanglichen Melodievariationen. Im Zusammenspiel mit seinen Freunden kommt alles zum Tragen, was den Jazz grundsätzlich, und eben auch in seinem Modern Jazz Segment ausmacht: alle spielen virtuos miteinander und swingen herrlich. Ein Fest!

Henning Sieverts: "bassolo" (GLM)

Cover - Henning Sieverts: bassolo | Bildquelle: GLM Bildquelle: GLM Ein ganzes Album nur mit Kontrabass? Die vielen tiefen Töne - ziehen die nicht ein bisschen runter? Keineswegs! Der in München lebende Bassist Henning Sieverts hat einen fesselnden klingenden Beweis dafür vorgelegt, wie viele funkelnde Farben sich auf dem dunkel tönenden Holztrumm erzeugen lassen. Das Album heißt "bassolo" und enthält 18 Stücke völlig unterschiedlicher Klang-Anmutung. Was Musiker wie Barry Guy, Larry Grenadier oder auch Marc Johnson vor ihm gewagt haben, ist glücklicherweise auch Sieverts jetzt angegangen. Man kennt Henning Sieverts auch als Cellisten, als Komponisten feiner und komplexer Stücke - und als Moderator von Jazz-Sendungen auf BR-KLASSIK. Auf "bassolo" stellt er diverse Eigenkompositionen vor, lässt aber den Bass auch über bekannten Themen seine solistische Kraft entfalten: "Solar" von Miles Davis, der Standard "Alone Together" von Arthur Schwartz und Howard Dietz oder auch das Traditional "St. James Infirmary", das auf einen englischen Folksong des 18. Jahrhunderts zurückgeht, sind hier zu hören. Als Paradebeispiel für Henning Sieverts‘ vielfarbiges Spiel kann "St. James Infirmary" dienen: Auf sechs Minuten Dauer hält Sieverts da die Spannung mit gezupftem und gestrichenem Spiel, lässt zwischendurch auch kurz seine Gesangsstimme summend dazukommen, und lässt das Stück mit hohen Flageolett-Tönen ganz am Schluss plötzlich wie in einem völlig anderen musikalischen Kontext aufscheinen. Die Eigenkompositionen sind durchweg überraschend und reichen bis hin zu einer geräuschmusikalischen "Miniatur", in der der Bass zu einem Percussion-Instrument wird. Überall fällt auf: Dieser Instrumentalist kann auf den Saiten hervorragend erzählen. Der Elefant unter den Streich-(und-Zupf-)Instrumenten wirkt hier außerordentlich gelenkig.

Summer Camargo: "To whom I love" (Blue Engine Records)

Cover - Summer Camargo: To whom I love | Bildquelle: Blue Engine Records Bildquelle: Blue Engine Records Summer Camargo kann eigentlich alles auf der Trompete! Sie spielt beängstigend virtuos, schnellste Läufe, vertrackteste rhythmische Figuren, lässig-gezogene Töne, starke, klare Noten mit gospelgetränkter Aussage, das alles und noch viel mehr kommt in ihrer Musik vor. Dabei ist die in Florida geborene Trompeterin gerade mal 22 Jahre alt und steht kurz vor ihrem Masterabschluss an der Juilliard School of Music in New York. "To whom I love" ist ihr Debutalbum und sie spielt zusammen mit ihren ebenfalls ziemlich jungen Mitmusiker:innen mitreißend swingenden Jazz, der stark in der Tradition verwurzelt ist. Der Count-Basie-Standard "Splanky" ist dabei und das Sextett mit Trompete, Saxophon, Posaune, Klavier, Bass und Schlagzeug erzeugt eine vergleichbare Power und gleichzeitig eine ähnlich entspannte Coolness, wie die Basie-Bigband im Original. "New Orleans Marching Band"-Sounds, Latin-Feeling, soulige Grooves, alles das gibt es auf dem Album von Summer Carmago. Dazu ist bei zwei Stücken der legendäre Hammondorganist Joey DeFrancesco mitdabei, er starb eine Woche nach dieser Aufnahmesession im August 2022. Die Einflüsse von Camargos Mentoren Sean Jones (Produzent des Albums) und Wynton Marsalis, beide sind auch Trompeter, scheinen teilweise deutlich durch, trotzdem hat Summer Camargo eine präsente eigene Instrumentalstimme. Man sollte sich diese Trompeterin merken, von ihr wird man sicher noch viel hören!

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