Armenien ist derzeit hauptsächlich als europäischer Zankapfel in den Medien präsent - stuft man die hunterttausende Leidtragenden osmanischen Terrors zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Opfer eines "Völkermords" ein? Am 2. Juni wird der Bundestag über eine Resolution abstimmen, mit der dieser umstrittene Begriff im Zusammenhang mit der armenischen Geschichte möglicherweise anerkannt wird. Stefan Schomann ist für "Musik der Welt" in ein leidgeprüftes Land gereist, klein, eng und isoliert am Südhang des Kaukasus gelegen - und hat dessen reichhaltige und traditionsreiche Musikkultur entdeckt.
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Armenien verfügt über bemerkenswert alte und fruchtbare musikalische Traditionen. Doch durch die Vertreibungen während des Ersten Weltkriegs und sieben Jahrzehnte Sowjetherrschaft war der Zugang zu den kulturellen Schätzen des Landes weitgehend unterbrochen, sodass die westliche Welt sie erst jetzt nach und nach entdeckt. Als der neuseeländische Musikethnologe und Komponist David Parsons Mitte der Neunzigerjahre Armenien für sich entdeckte, erkannte er, dass dieses Land über "die herausragendste Musiktradition" verfüge, der er je begegnet sei. Die liturgischen Gesänge Armeniens gehören zur ältesten schriftlich überlieferten Musik der Welt. Als Westeuropäer glaubt man erst an einen Druckfehler, wenn bei manchen Gesängen ein Komponist aus dem 5. Jahrhundert genannt wird. Doch die Ursprünge dieser Musik wie auch ihre schriftliche Überlieferung reichen tatsächlich so unvorstellbar weit zurück.
Musik der Welt
Samstag, 21. Mai 2016, 23:05 Uhr
"Die Sonne, der Wein und der Wind der Zeiten"
Musik aus Armenien
Ein Feature von Stefan Schomann
Kloster Haghpat (Armenien) | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Die Bedeutung dieser alten Gesänge für das kulturelle Überleben der armenischen Nation kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zeitgenössische Komponisten wie Tigran Mansurian oder Awet Terterjan schöpfen aus diesem Fundus. Selbst die ausgesprochen lebendige Jazz- und Pop-Szene Armeniens kommt immer wieder darauf zurück - etwa der Pianist Tigran Hamasyan in seiner CD "Luys i Luso". Und als Jan Garbarek für sein Album "Officium Novum" eine neue Klangsprache suchte, eine elementare, kontemplative Musik, über der seine Saxophon-Koloraturen kreisen könnten, wurde er in der armenischen Vokaltradition fündig.
Die armenische Kultur neueren Datums ist vor allem von zwei Leitmotiven geprägt - zum einen dem Exil: zahllose Menschen armenischer Herkunft zog es in die Fremde - wie etwa den Philosophen Georges Gurdijeff oder den Chansonnier Charles Aznavour. Den Geist der Musik ihres Heimatlands vergaßen sie jedoch nie. Und der Genozid hat seine unauslöschliche Spuren im armenischen Bewusstsein hinterlassen. Keine Familie, die dieser Katastrophe nicht Tribut hätte zollen müssen. Armenien wurde, wie ein Historiker es in den dreißiger Jahren ausdrückte, "zur Heimat des Schmerzes".
Dieser Schmerz ist bis heute unauslöschlicher Bestandteil der armenischen Musik - doch stets ist er gepaart mit Überlebenswille, Lebensfreude und Offenheit.