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Der letzte Kastrat Alessandro Moreschi So klang der "Engel von Rom"

Er war der letzte seiner Art: Der Kastrat Alessandro Moreschi leitete die legendäre päpstlichen Kapelle "Capella Sistina" im Vatikan und machte dort einzigartige Schallplattenaufnahmen seiner Kastratenstimme.

Illustration:  | Bildquelle: Illustration/BR

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Der letzte Kastrat

Alessandro Moreschi

Es gibt diese Aufnahme, in der Alessandro Moreschi das "Ave Maria" singt. Sie ist ein einzigartiges musikhistorisches Zeugnis, ein klingendes Fossil aus einer untergegangenen Zeit. Es ist ein wenig so, als ob uns heute mitten im Großstadtgetümmel plötzlich ein Neandertaler Auge in Auge gegenüberstände.

Kulturschock für Belcanto-Ohren

Diese merkwürdige Stimme mit ihrer scharfen Forte-Höhe und ihrer kantigen Färbung, was ist von ihr zu halten? Sie mag uns irritieren, verstören, wahrscheinlich sogar belustigen. Auf alle Fälle sprengt sie unser musikalisches Vorstellungsvermögen. Natürlich ist diese Stimme ein Kulturschock für Pavarotti-geeichte Belcanto-Ohren, denn hier begegnen wir einem Phänomen, das uns heute völlig fremd erscheint. Der Gesang, der hier aus dem Nebel der Vergangenheit zu uns vordringt, ist der eines männlichen Sopranisten, es ist Alessandro Moreschi, der letzte, große Kastrat.

"Es lebe das Messerchen!"

Unsere Vorfahren empfanden da ganz und gar anders. Für die Zeitgenossen von Händel über Haydn bis hin zum frühen Meyerbeer waren Vokalklänge dieser Art das bewunderte "Ideal" der musikalisch-gesanglichen Ausdrucksweise. "Es lebe das Messerchen!", riefen unsere Ahnen begeistert von den Rängen, und fielen in euphorisierte Raserei, wenn sie eine Stimme dieser Art vernahmen.

Aus der Enzyklopädie der gesamten Medizin, 1841

"Die nötigen Instrumente und Verbandsgegenstände sind folgende: ein convexes und ein gerades Messer, eine Schere mit stumpfer Spitze,  eine Hohlsonde, dazu die zur Unterbindung blutender Gefäße nötigen Werkzeuge, ein spitzer Haken, Schwämme mit kaltem und warmem Wasser."

Schallplattenaufnahmen im Vatikan

Im Jahr 1902 ist ein amerikanisches Brüderpaar in Europa unterwegs, um das neue Medium Schallplatte auf seine Anwendungsmöglichkeit zu testen. Fred und Will Gaisberg heißen die beiden innovativen Gründerväter der Schellack-Ära, die heute zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Phono-Industrie zählen. Rom ist das Ziel des Brüderpaares, denn dort wollen sie die Sprechstimme von Papst Leo XIII aufzeichnen. Doch der greisenhafte Heilige Vater verweigert die Aufnahme. Stattdessen schlägt der Vatikan eine Alternative vor: Der Kastrat Alessandro Moreschi, genannt der "Engel von Rom", soll singen. Er ist Leiter der legendären "Capella Sistina", der päpstlichen Kapelle.

Die letzten seiner Art

Opernsänger Farinelli (Carlo Broschi) | Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images Der Kastrat Farinelli | Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images Sein Gesicht ist gänzlich bartlos, auffällig breit und mächtig ist der Brustkorb entwickelt. Beim Sprechen klingt seine Stimme metallisch, wie die eines hoch sprechenden Tenors. Zweimal, 1902 und 1904, tritt Alessandro Moreschi vor den Schalltrichter des Gaisbergs. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Spezies schon längst Geschichte. Einst berühmte Kastraten wie Farinelli, dessen liebliche Koloraturen die Depression des spanischen Königs Philip V. linderten, oder Rauzzini, für den Mozart die Kantate "Exultate, Jubilate" komponierte, sind nur noch eine fahle Erinnerung aus einer einst goldenen Vergangenheit. Giovanni Battista Velutti, der letzte Kastrat, für den Opernkomponisten große Rollen schrieben, stirbt 1861, drei Jahre nachdem Alessandro Moreschi in der Nähe von Rom geboren wird.

"Die singenden Herren Ohnegeil"

Aus den Opernhäusern sind "die singenden Herren Ohnegeil", wie sie der deutsche Sprachgebrauch zu der Zeit nennt, Mitte des 19. Jahrhunderts verschwunden. Ist Alessandro Moreschi deshalb ein Anachronismus? Nein, denn in Kirchen ertönt ihr glockenheller Sopran bis ins 20. Jahrhundert. Zwar hat der Vatikan "Entmannung" offiziell bei Strafe verboten. Inoffiziell aber hat jedes italienische Gotteshaus, das etwas auf sich hält, "Halbmänner" im Solde. Besonders berühmt für seinen unvergleichlichen Klang ist der Chor der Sixtinischen Kapelle mit seinen  jeweils acht männlichen Sopran- und Alt-Kastraten. Alessandro Moreschi ist zunächst Solist des Ensembles, später leitet er es. Der "letzte Kastrat" ist bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1913 in der Peterskirche zu hören. 1922 stirbt er vierundsechzigjährig.

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