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Alfred Schnittke Violinkonzert Nr. 4

Die enge Freundschaft und das große Verständnis füreinander hebt der Geiger Gidon Kremer besonders hervor, wenn er über seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Komponisten Alfred Schnittke spricht. Beide sind lettisch-jüdischer Herkunft, beide mussten sie als junge, experimentierfreudige Künstler die Unbill der sowjetischen Kulturpolitik erleiden. Beide sind dem zum Trotz konsequent ihren eigenen Weg gegangen. All das spiegelt sich in Schnittkes 1984 von Kremer in Berlin uraufgeführten Violinkonzert Nr. 4 wider. BR-KLASSIK sprach mit Kremer über dieses Starke Stück.

Komponist Alfred Schnittke | Bildquelle: imago/ITAR-TASS

Bildquelle: imago/ITAR-TASS

Die Sendung zum Anhören

Es handelt sich bei diesem Werk um eine von Melancholie geprägte Musik, die immer wieder durch tröstende, auch humorvolle Momente aufgehellt wird und dem Interpreten Gidon Kremer, dem sie gewidmet ist, besonders nah geht. Warum? "Weil ich seine Absichten zu kennen glaube und weil ich die Traurigkeit, die sehr oft in seiner Musik vorkommt, auch in diesem Vierten Konzert, gut nachvollziehen kann und auch teile", erklärt der Geiger. "Das bedeutet nicht, dass Alfred nicht voller Humor war. Dass er nicht die Freuden des Lebens kannte. Aber es ist etwas Wichtiges und Persönliches in seiner Handschrift und in den Kompositionen, die ich das Glück hatte, zu spielen und immer noch das Glück habe zu spielen."

Es geht nicht nur um schöne Töne. Es geht um eine Auseinandersetzung, die uns ergreifen soll.
Gidon Kremer

Die Dunkelheit dominiert

Vom ersten Ton an stellt Alfred Schnittkes Komposition alles auf den Kopf, was man sich unter einem Violinkonzert vorstellt. Statt mit einem schnellen Eröffnungssatz beginnt es mit einem einleitenden Andante. Die Solovioline ist nicht in brillant in hohe Lage gesetzt, vielmehr dominiert ähnlich wie bei Schumanns Violinkonzert die dunkle, tiefe Lage. "In Schnittkes Musik kommt sehr vieles vor, was emotional erkennbar ist, nicht nur für ehemalige sowjetische Musiker oder Bürger", sagt Gidon Kremer. "Es sind Symbole der Vergangenheit – Symbole, an die sich Alfred gehalten hat, in seinem Stil, der er selber Polystilistik nannte."

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Visuelle Kadenz

Violine Gidon Kremer | Bildquelle: picture alliance / Fred Toulet/Leemage Gidon Kremer | Bildquelle: picture alliance / Fred Toulet/Leemage Über Bläsermotiven, die wie aus der amerikanischen Minimal Music entlehnt scheinen, erhebt sich die Solovioline im zweiten Satz mit kantigen, virtuosen Figuren. Dieser Satz beruht auf der Form einer barocken Passacaglia, die sich immer mehr verdichtet. Der Violin-Solopart endet in einer Kadenz, die Schnittke in seiner Partitur als "Cadenza visuale" bezeichnet. Was bedeutet, dass der Solist in einer Art leidenschaftlicher Performance agiert, die tonlos ist. Für Gidon Kremer eine Pointe auf die Rolle des auftretenden Künstlers, sein "Auf-sich-Alleingestelltsein" zwischen begleitendem Orchester und zuhörendem Publikum: "Es geht mir nicht darum, so zu tun, als ob ich ein Schauspieler bin. Sondern der Sologeiger in dieser Partitur ist ein Bestandteil in der gesamten Dramatik. Und wenn ich es schaffe, dieser Aufgabe zu entsprechen, dann gelingt auch das Konzert, stimmt es nicht nur in Tönen, sondern auch in der Gestik."

Falsche Erlösung

Romanzenhaft mutet das Adagio des dritten Satzes an. Der Komponist versteht diesen Moment in seinem Werk als falsche Erlösung in der Schönheit der Melodie. Die ironische Distanz wird deutlich, wenn Schnittke hier – ähnlich wie Gustav Mahler bei seinem "Bruder Jakob-Thema" der Ersten Symphonie – eine groteske musikalische Situation durch überzogene Seufzer-Motive erzeugt.

Skurrile Uraufführungs-Situation

Eine bizarre Musik, die eins zu eins den Umständen entspricht, unter denen die Uraufführung des Werks am 11. September 1984 bei den Berliner Festwochen entstand. Gidon Kremer, der im Exil lebende Geiger, spielte die Solopartie. "In den 80er-Jahren wurde mir das Land versperrt, in dem ich aufgewachsen bin: die Sowjetunion", erinnert sich Kremer. "Und diese kleine Brücke wurde mir dadurch geschaffen, dass ich Alfreds Werk in Berlin uraufführen durfte. Und er sogar zu diesem Event anreisen konnte. Der Botschafter oder Konsul – wer auch immer ihn da aus der sowjetischen Botschaft betreute – sagte ihm, er solle nicht zu große Zeichen der Herzlichkeit auf der Bühne zeigen. Also keine großen Umarmungen. Und wir haben herzlich darüber gelacht."

Für mich ist es wichtig, dass es einen Alfred Schnittke gab, immer noch gibt.
Gidon Kremer

Verklärter Ausklang

Im finalen "Lento" seines Vierten Violinkonzerts verdichtet der Komponist das Material und die Melodien der vorhergehenden Sätze zu einem kontrapunktisch komplexen Geflecht, das in den letzten Takten die außergewöhnliche Seelenverwandtschaft zwischen Kremer und Schnittke besingt. Im dreifachen Piano klingt das Werk schließlich meditativ, verklärend aus. "Für mich ist es wichtig, dass es einen Alfred Schnittke gab, immer noch gibt", bringt Gidon Kremer sein Verhältnis zu diesem Komponisten auf den Punkt. "Ich freue mich, am Leben zu sein und seine Stimme zu vermitteln."

Musik-Info

Alfred Schnittke:
Violinkonzert Nr. 4


Gidon Kremer (Violine)
Philharmonia Orchestra
Leitung: Christoph Eschenbach

Label: Teldec

Sendung: "Das starke Stück" am 30. Januar 2024, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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