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Gidon Kremer wird 75 Geiger, Entdecker, Mensch

Als Jahrhundertgeiger wird er bezeichnet. Aber Gidon Kremer ist mehr: ein Entdecker neuer Klänge, ein Erfinder musikalischer Oasen. Und nicht zuletzt: ein politischer Mensch, der nicht schweigt, wo ihm Unrecht begegnet. Am 27. Februar wird er 75 Jahre alt.

Geiger, Entdecker, Mensch: Gidon Kremer wird 75. | Bildquelle: picture alliance

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Man muss sich Gidon Kremer als einen getriebenen Menschen vorstellen. Er selbst tut es zumindest.

Ich hatte mein Leben lang das Gefühl, dass ich zu irgendetwas verpflichtet bin.
Gidon Kremer

Und da ist einiges in seiner Biographie, was gut in dieses Bild passt. Der Vater, der ihn ans Instrument drillt. Der ihm einen Perfektionismus einimpft, der Kremer bis heute im Nacken sitzt. Dann sind da die wahnsinnig frühen Erfolge. Das Wort klingt eigentlich zu klein. Ruhm wäre richtiger.

Gidon Kremer – der Geiger

Kremer ist erst 35 als er den Ernst von Siemens Musikpreis erhält. Eine Auszeichnung, die normalerweise eher an angegreiste Musiklegenden geht. Ein Preis, der Lebenswerke adelt. Aber so kann man es ja auch sehen: Ein Leben lag damals schon hinter ihm.

1978 emigriert Kremer, ein Lette mit deutschen Wurzeln, in den Westen. Kehrt der Sowjetunion den Rücken. Lässt ein Leben zurück. Und beginnt ein neues. Genauso umtriebig wie das alte. Natürlich. Kremer ist schließlich mehr als ein Geigenspieler. Kremer ist ein Entdecker. Und störrisch: einer, der seine Entdeckungen durchsetzt. Egal wie verzopft der Klassikbetrieb ist.

Mich macht es traurig, wenn ich sehe, dass Namen mehr bedeuten als Musik.
Gidon Kremer

Gidon Kremer – der Entdecker

Immerhin: Kremer hat es geschafft, ein paar neue Namen zu etablieren. Zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten. Alfred Schnittke etwa, aber auch Gija Kancheli oder Sofia Gubaidulina. Er hat sich mit nachhaltiger Wirkung für sie eingesetzt. Auch für Arvo Pärt, den estnischen Einsiedler. Mittlerweile sowas wie eine Kultfigur. Vielleicht ein Seelenverwandter Kremers. Nicht nur musikalisch. Auffällig ist dieser singende Tonfall. Sanft aber sicher. Haben sie beide.

Eine Sprache, die mit wenigen Tönen sehr viel sagen kann!
Gidon Kremer über die Musik Arvo Pärts

Natürlich gelingt sowas nicht im Alleingang. Aber auch das ist ein Talent von Gidon Kremer: Er schafft es, Menschen um sich zu versammeln, Freunde, Gleichgesinnte.

Gidon Kremer – der Oasen-Erfinder

Umkreist von Freunden: Gidon Kremer und "seine" Kremerata Baltica. | Bildquelle: picture alliance Zuhause: Gidon Kremer im Kreis "seiner" Kremerata Baltica. | Bildquelle: picture alliance Dafür steht das von ihm in den Achtzigern gegründete Kammermusikfestival im österreichischen Lockenhaus, das er bis 2011 geleitet hat. Ein Ort, des "intimen Miteinander, frei von allem kommerziellen Druck", wie er sagt.

Dafür steht natürlich auch die Kremerata Baltica – jenes Ensemble, das vor allem mit seinem Namen verknüpft ist. Bestehend aus jungen Musikerinnen und Musikern der drei baltischen Staaten. Ein Klangkörper, der Kremer bei seinen Entdeckungstouren regelmäßig begleitet. In jüngster Zeit vor allem in die Musik des lang vergessenen polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg.

Vielleicht liegt es an seiner Fähigkeit, sich solche Oasen zu schaffen, dass Gidon Kremer zeitlebens so unabhängig geblieben ist.

Gidon Kremer – der politische Mensch

Zuhause sei er in der Musik, sagt er. Nicht in einem Land, sondern bei seinem Ensemble, der Kremerata. Das klingt ein wenig verloren. Erstmal. Auf den zweiten Blick aber irgendwie tröstlich. Und macht vielleicht einen Gutteil der Integrität aus, die Kremer ausstrahlt. Künstlerisch und politisch.

Meine Angelegenheit ist die Musik, aber ich bin kein gleichgültiger Mensch.
Gidon Kremer 

Wenn um ihn herum Dinge passierten, die ihn aufwühlten, müsse er sich einfach äußern, so Kremer. Er könne gar nicht anders. Also macht er’s. Seit Jahren kritisiert er den autoritären Kurs, den Putin in Russland fährt. "Es befremdet mich, es strengt mich an, weil ich merke, in welchem Maße ich ein Andersdenkender bin", sagt der Geiger. Tritt für eine offene russische Gesellschaft ein. Prangerte den Mord am russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow an. Kritisiert den Umgang mit dem Regisseur Kirill Serebrennikov. Zeigt sich erschüttert, angesichts der russischen Invasion in der Ukraine. Und ahnt doch, wie beschränkt der eigene Einfluss ist. Ohnmächtig fühle er sich oft. Denn: Wer nehme einen schon ernst, als klassischen Musiker?

Gidon Kremer – ein Heiliger?

Einen "Heiligen der Musik" hat ein Kollege Gidon Kremer mal genannt. Klingt viel zu aseptisch für einen, der so durchlässig, verletzlich, zugewandt ist. Wie sein Sound auf der Geige. Der Perfekteste ist Kremer nicht. Interessiert ihn wohl auch nicht so. Aber dafür einer, der einen packt – dessen Sound sich einschürft. Ein Mensch – im emphatischen Sinn.

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Pärt: Fratres | Bildquelle: Gidon Kremer - Topic (via YouTube)

Pärt: Fratres

Sendung: "Piazza" am 26. Februar ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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