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Gymel Klangvoller Zwiegesang

Der Begriff ist in der musiktheoretischen Literatur seiner Zeit kaum zu finden, auch heute ist er wohl nur wenigen geläufig: Gymel, eine Stimmführungs- und Satztechnik vor allem in der frühen englischen Mehrstimmigkeit.

Die um 900 in der Benediktinerabtei Werden entstandene «musica enchiriadis - älteste Zeugnis der Mehrstimmigkeit im Abendland | Bildquelle: © dpa - Report

Bildquelle: © dpa - Report

Der zweistimmige Tropus in einem dreistimmigen Sanctus von Johannes Roullet, niedergeschrieben zwischen 1456 und 1459 - dies ist der älteste Beleg für einen Gymel im Sinn der Stimmführungstechnik der "Aufspaltung" einer Stimme in zwei. "Gymel" ist dabei identisch mit der Anweisung "Divisi" in modernen Partituren, etwa wenn die Cello-Gruppe eines Orchesters in zwei unterteilt werden soll. In Roullets Sanctus teilt sich mit dem Tropus, dem Texteinschub "Morsus sanat sempiternos", die Oberstimme in zwei lagengleiche Stimmen, während die anderen Stimmen pausieren. Der dreistimmige Satz wird auf einen zweistimmigen reduziert. Nach dem Ende des Einschubs vereinigt sich die geteilte Oberstimme wieder zu einer Stimme und verbindet sich mit den anderen erneut zur Dreistimmigkeit:

Warmer, weicher Klang

Etymologisch leitet sich der Anglizismus "Gymel" her vom lateinischen "gemellus", was so viel wie doppelt im Sinn von zwillingshaft bedeutet. Und diese Zwillingshaftigkeit offenbart der Gymel auch in seiner Ausprägung als Satztechnik. Der vermutlich um 1470 verfasste Traktat "De praeceptis artis musicae" von Guilelmus Monachus ist die bislang wohl einzige bekannte musiktheoretische Quelle, die sich mit dem Gymel diesbezüglich befasst. In ihr wird der Gymel-Tonsatz nach dem Fauxbourdon als typisch englische Satztechnik bezeichnet und als zweistimmiges Gewebe aus "klangvollen" Terzen und Sexten beschrieben. Beispielsweise wird das Loblied auf die Jungfrau Maria "Edi beo thu" aus dem späten 13. Jahrhundert in dieser spezifischen Satztechnik zu einem Zwiegesang von zarter, weicher, warmer Klanglichkeit.

"…die älteste Form der englischen Mehrstimmigkeit"

Die permanente Aneinanderreihung von Terzen und Sexten wurde von der späteren Musikforschung in direkte Verbindung gebracht mit dem auffälligen, gehäuften Gebrauch dieser Intervalle in der englischen Musik seit dem 13. Jahrhundert. Der deutsch-amerikanische Musikwissenschaftler Manfred Fritz Bukofzer formulierte es 1935 mit provokativer Entschiedenheit: "Der Gymel ist die älteste Form der englischen Mehrstimmigkeit."

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 25. Februar 2018, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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