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Zoom - Komponist Anton Webern wird erschossen Tod aus Versehen

Tag der bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reiches: Der amerikanische Präsident Harry S. Truman erklärt am 8. Mai 1945 im Rundfunk den Krieg in Europa für beendet. Auch Österreich wird von den Alliierten besetzt. Besonderes Augenmerk richten sie auf das Gebirge, in dem Widerstandsnester vermutet werden. In die Alpen sind jedoch nicht nur versprengte Soldaten und Parteigrößen der Nazis geflohen. Auch zahlreiche Familien sind hier auf der Flucht vor den Bombardements, darunter der Komponist Anton Webern mit seiner Frau, seinen zwei verheirateten Töchtern und deren Familien.

Anton Webern, österreichischer Komponist. Photographie. 1945. Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek | Bildquelle: picture-alliance / Imagno

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Während Webern im Gebirgsdorf Mittersill im Salzburgischen Land Schutz findet, werden in seinem Haus in Maria Enzersdorf bei Wien russische Soldaten einquartiert. Sein gesamter Besitz wird geplündert, das Mobiliar zerstört, der Garten auf der Suche nach versteckten Wertgegenständen durchgraben. Und tatsächlich finden die russischen Soldaten unter Weberns Gartenhaus einen Koffer. Er enthält Manuskripte. Die Soldaten können nichts damit anfangen, zerfetzen die Notenblätter. Immerhin: Einer schneidet sich aus dem ledernen Einband einer Partitur von Alban Bergs "Wozzeck" eine Einlege-Sohle heraus, so etwas war knapp. Zur gleichen Zeit haben amerikanische Soldaten Weberns Zufluchtsort Mittersill besetzt.

"Überstehn ist alles"

Anton Webern sitzt über einem unvollendeten Werk. Die Zwölftonreihe, auf der es basiert, ist in sich symmetrisch. Es ist eine Musik, deren irrwitzig komplizierte Konstruktion sich nur einer Analyse erschließt, deren Klang aber leicht ist und transparent – und stets am Rand des Schweigens verharrt. Doch Webern unterbricht die Komposition und flüchtet sich in Lektüre. In sein Notizbuch schreibt er den Rilke-Vers: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles."

Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.
Rainer Maria Rilke

Auf eine letzte Zigarre

Unterdessen beweist Weberns Schwiegersohn Benno Mattel Sinn fürs Praktische. Schon bald betreibt er einen lukrativen Schwarzhandel mit Zucker und Kaffee, den er beim Kompaniekoch der Amerikaner kauft. Am 15. September 1945 werden die Weberns von ihrem Schwiegersohn zu einem reichhaltigen Essen eingeladen. Sogar eine echte Zigarre hat Mattel seinem Schwiegervater versprochen. Auch an diesem Abend trifft er sich wieder mit dem Kompaniekoch, um illegale Transaktionen einzufädeln. Doch die Verabredung ist eine Falle: Der Schwarzmarkt-Handel ist aufgeflogen, das Haus von Soldaten umstellt. Benno Mattel wird verhaftet. Kurz darauf tritt Webern nichtsahnend vor das Haus, um die langersehnte Zigarre zu rauchen, die erste seit Monaten. Dabei stößt er im dunklen Hausflur auf den amerikanischen Kompaniekoch. Der gerät unerklärlicherweise in Panik, greift zur Pistole und feuert drei Schüsse auf den völlig wehrlosen Komponisten. Webern taumelt ins Zimmer zurück und stirbt, umgeben von seiner fassungslos entsetzten Familie.

Ein tragischer Unglücksfall

Die Amerikanische Militärjustiz untersucht den Fall. Weberns Schwiegersohn wird wegen Schwarzhandel zu einem Jahr Haft verurteilt, der Todesschütze, Kompaniekoch Raymond Bell, bleibt unbehelligt. Ein Unglücksfall in Ausübung der Dienstpflicht. Zehn Jahre später stirbt Bell an Alkoholismus. Dass er einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts getötet hat, ist ihm nicht klar. Seine Frau schreibt an Weberns Biographen: "Jedesmal, wenn er betrunken war, sagte er: 'Ich wünschte, ich hätte den Mann nicht getötet!' Raymond war ein sehr gütiger Mensch, der jeden gern hatte. Dies sind die Folgen des Krieges. So viele müssen leiden."

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