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Zum 100. Geburtstag von Dexter Gordon Der sanfte Riese mit dem Saxophon

Er hatte einen riesigen Ton: voll, rund, präsent. Und mit 1,96 Meter war er tatsächlich ein Riese: der amerikanische Saxophonist Dexter Gordon. Sein Sound war einzigartig, und sein Gesicht wurde durch seine Hauptrolle in dem Film "Um Mitternacht" zu einem der berühmtesten des modernen Jazz. Am 27. Februar wäre Dexter Keith Gordon 100 Jahre alt geworden.

Dexter Gordon  | Bildquelle: picture alliance  AP Photo

Bildquelle: picture alliance AP Photo

Ein Hotelzimmer. Der Mann im weißen Hemd mit über dem Rücken gekreuzten Hosenträgern sitzt auf dem Bett und greift in einen Koffer, in dem sein Saxophon liegt. Er sagt mit rauer, leiser, fast gurgelnder Stimme: "Lady Sweets. Are you ready for tonight?" Blende. Die Kamera schwenkt zu einer Bühne. Ein Kontrabass, Finger, die ganz sacht die dicken Saiten anschlagen, und ein lässig schleichender Rhythmus setzt ein. Darüber ertönen wenige Takte später ungemein klare, geradeheraus gespielte, starke Töne eines Tenorsaxophons. Sie formen das Thema des berühmten lyrischen Stücks "Body and Soul". Und da zeigt die Kamera auch schon den Musiker, der diese Töne spielt. Es ist der Mann aus dem Hotelzimmer. Er sitzt vor den anderen Musikern der Band auf einem Stuhl und bläst in sein Instrument. Er trägt immer noch Hemd und Hosenträger, ohne Jackett, und eine lässig umgebundene Krawatte.

Filmisches Denkmal für Dexter

In diesem Film heißt er Dale Turner. Für alle jazzbeflissenen Betrachter aber heißt er ganz anders: Dexter Gordon. Es sind seine Töne, die man hier hört. Und er spielt in diesem Film, "Um Mitternacht" des französischen Regisseurs Betrand Tavernier, natürlich eine erfundene Figur – doch zugleich stellt er sich hier ungemein ergreifend selbst dar. Dale Turner spielt wie Dexter Gordon, spricht wie Dexter Gordon, geht wie Dexter Gordon. Und so setzte damals, im Jahr 1986, der Regisseur Bertrand Tavernier mit seiner fiktiven Geschichte auch einem ganz großen real existierenden Musiker ein Denkmal: eben dem Saxophonisten und Schauspieler Dexter Gordon selbst.

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Dexter Gordon : Body And Soul | Bildquelle: dim1309 (via YouTube)

Dexter Gordon : Body And Soul

Der Film – und die Verwandtschaft zu Dexter Gordons Leben

Dieser Film war eine Sensation. Denn er war der womöglich überhaupt erste Spielfilm, der tiefgründig das Wesen und die seelenvolle Ausdruckskraft des (modernen) Jazz erfasste. Die Stärke des Films lag auch in der Wahl des Hauptdarstellers. Denn authentischer ging es nicht. Erzählt wurde das Leben eines scheiternden Riesen: eines ungemein begabten Musikers, der sich durch Suchtprobleme viel im Leben verbaute. Und der als Amerikaner in Europa die Gelegenheit hatte durchzuatmen, zu neuen Kräften zu finden und wieder auf die Beine zu kommen. Der Film inspirierte sich damals an den Lebensgeschichten der Jazz-Größen Lester Young und Bud Powell – doch er wies starke Verwandtschaften auch zum Leben des Hauptdarstellers auf. Denn auch Dexter Gordon war eine Jazzgröße, die nach frühem Glanz große Abstürze zu verkraften hatte; ja, wegen seiner Drogensucht saß er sogar mehrmals im Gefängnis. Und in den Jahren nach dem Film schien Gordon in seinem eigenen Leben die Geschichte des Films fast nachzuahmen: Wie der Filmheld Dale Turner ist er in seinen letzten Lebensjahren zurück in den USA, und wie der stirbt er früh: Im Alter von 67 Jahren erliegt Gordon, lebenslang auch ein starker Raucher, am 25. April 1990 einer Kehlkopfkrebs-Erkrankung. Das traurige Ende eines außergewöhnlichen Musikers.

Töne mit Strahlkraft und Zärtlichkeit

Wie Dexter Gordon Melodien umspielte und umschrieb: Das war ein Maximum an Ausdruck – und zugleich an Innigkeit. Töne mit Strahlkraft und Zärtlichkeit. Töne, die ein Leben zwischen besonderem Glanz und besonderer Tragik spiegelten. Dexter Keith Gordon war am 27. Februar 1923 in die Familie eines afroamerikanischen Arztes hineingeboren worden, Dr. Frank Gordon, und dessen Frau Gwendolyn Baker, die madagassisch-französische Vorfahren gehabt haben soll. Dr. Frank Gordon war Leibarzt der Jazz-Stars Lionel Hampton und Duke Ellington und zugleich Amateurklarinettist. Jazzmusik und speziell der Klang von Big-Bands gehörte für Sohn Dexter früh zum Alltag. Bald lernte er Klarinette, später stieg er auf Altsaxophon und schließlich auf Tenorsaxophon um, das Instrument, auf dem er berühmt werden sollte. Nach dem frühen Tod des Vaters verließ Dexter die High School und wurde Profimusiker – schon mit 17 Jahren spielte er bei Lionel Hampton. Er begleitete in ganz jungen Jahren Größen wie Louis Armstrong und Billy Eckstine. In New York saugte er den neuen Stil Bebop in sich auf. Dieser Stil prägte von da an sein musikalisches Leben – auch in der konturenschärferen, souligeren Ausprägung namens Hard Bop.

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Dexter Gordon - Chan's song (from the movie) | Bildquelle: Raffo Suárez (via YouTube)

Dexter Gordon - Chan's song (from the movie)

Der neue Jazz-Zirkel In New York

Allerdings gehörte Dexter Gordon nur zeitweilig den berühmten Zirkeln der neuen Töne an. Er nahm an Sessions mit jenen Musikern wie Pianist Thelonious Monk, Saxophonist Charlie Parker oder auch Trompeter Dizzy Gillespie teil, die in "Minton’s Playhouse" im New Yorker Stadtteil Harlem in langen nächtlichen Sessions einen ruppigen Stil ausprägten, der sich bewusst vom kommerziell gewordenen Big-Band-Jazz absetzte, machte mit Dizzy Gillespie auch Platten-Aufnahmen. 1945 und 1946 spielte er in New York auch als Bandleader Musik ein – darunter Stücke wie "Blow Mr. Dexter" und nicht zuletzt "Long Tall Dexter", eine Eigenkomposition, deren Titel Gordons Spitzname zitierte. Bei seinen Aufnahme-Sessions für das berühmte Label "Savoy" waren auch arrivierte Bebop-Größen wie Pianist Bud Powell und Schlagzeuger Max Roach dabei. Doch bald ging Gordon wieder an die Westküste zurück, wo er sich unter anderem berühmt gewordene Tenorsaxophon-Battles mit seinem Kollegen Wardell Gray lieferte.

Zwei Jahre Gefängnis – und eine Filmrolle als Insasse

In den 1950er Jahren rutschte Gordon tief in die Krise. 1953 bis 1955 war er wegen Heroinbesitzes inhaftiert: Er verbrachte zwei Jahre im Gefängnis von Chino, Kalifornien, und gegen Ende des Jahrzehnts wiederholt weitere Zeiten in Haft, unter anderem im berühmten Folsom State Prison, ebenfalls in Kalifornien, dem der Sänger Johnny Cash 1955 den bekannten Country-Song "Folsom Prison Blues" gewidmet hatte. Im Gefängnis wurde er in den 1950er Jahren auch Darsteller in einem Film: "Unchained" von Hal Bartlett. Darin spielte Gordon die sehr kleine Rolle eines Saxophonisten in einer Gefängnisband – in Szenen, die im Gefängnis von Chino gedreht wurden.

Dexter Gordon auf BR-KLASSIK

Montag, 27. Februar 2023, 23.05 Uhr: "Jazztime: Jazztoday
Zum 100. Geburtstag von Dexter Gordon: Henning Sieverts feiert den Saxophonisten in zeitlos guten Aufnahmen u.a. mit Wardell Gray, Gene Ammons, Clark Terry, Barry Harris, Tommy Flanagan und Buster Williams.

"Go!", sagte er – und tat es

Den schwierigen Jahren Gordons folgten dann besonders erfolgreiche: Der Saxophonist fasste wieder in New York Fuß und nahm dort mehrere Alben für das herausragende Label Blue Note auf – darunter eines seiner überhaupt berühmtesten, "Go!" von 1962. In den Blue-Note-Jahren spielte er mit so bekannten Kollegen wie Pianist Kenny Drew, Bassist Paul Chambers, den Schlagzeugern Philly Joe Jones und Billy Higgins und dem Trompeter Freddie Hubbard zusammen, Musikern, die damals – wie Gordon selbst – zu den großen Protagonisten des aktuellen Jazz gehörten. Doch Angebote aus Europa lockten ihn damals, und daraus wurde ein Aufenthalt von 14 Jahren. Gordon lebte zu jener Zeit vor allem in Kopenhagen und Paris. Gerade in Kopenhagen hinterließ dieser Jazzmusiker, zu dem viele aufschauten, auch besonders große Fußstapfen: Die Jazzszene Kopenhagens profitierte viel von der Anwesenheit dieser starken musikalischen Autorität. Live-Aufnahmen aus dem Kopenhagener "Jazzhus Montmartre" dokumentieren diese Zeit, in der Gordon zum einen mit amerikanischen Kollegen wie Pianist Kenny Drew und Schlagzeuger Albert Heath zusammenspielte, zum anderen aber auch mit dem großen dänischen Bassisten Niels-Henning Orsted-Pedersen. In Europa fühlte sich Dexter Gordon künstlerisch stärker respektiert als in den USA, und er sah sich nicht dem aus seiner Heimat gewohnten Rassismus ausgesetzt. Für ihn wie für viele andere Musikerinnen und Musiker aus den USA – Nina Simone und Bud Powell sind bekannte Beispiele – war Europa gerade deshalb eine Wahlheimat. Doch kehrte Gordon wieder in die USA zurück, wo er von 1976 an wieder lebte. Nach seiner Rückkehr entstand unter anderem das Album "Sophisticated Giant" (1977), dessen Titel den Musiker besonders gut beschreibt.

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Dexter Gordon: Montmartre, Copenhagen, 1971 | Bildquelle: Dexter Gordon - Official (via YouTube)

Dexter Gordon: Montmartre, Copenhagen, 1971

Individualist und Außenseiter der Szene

Mit am treffendsten hat der BR-Klassik-Mitarbeiter Marcus A. Woelfle hat den Saxophonisten charakterisiert: "Dexter Gordon ist der große Individualist, der gegen den Strom der Zeit schwimmt, der unbeirrbar Bebop spielt, wenn Cool Jazz, Free Jazz oder Jazz-Rock angesagt sind. Er ist der Außenseiter, der schlicht und ergreifend nicht an Ort und Stelle ist, wenn seine Saat aufgeht."

Körper, Seele, blaue Augen und Töne mit Autorität

Es ist das Leben eines Einzelgängers. Der große Ton des langen Saxophonisten vertrug zwar Gesellschaft, aber am besten kam er zur Geltung, wenn das Saxophon das einzige Blasinstrument in der Band war. Dann holte Dexter Gordon Luft und schickte Töne von erdiger Kraft und stilsicherer Feinheit in den Raum. Vor allem die großen lyrischen Stücke wie "Body and Soul" oder auch "Darn That Dream" und "Guess I’ll Hand My Tears Out To Dry" spielte er in einer unnachahmlich kitschfreien Schönheit. Sein Saxophonklang ist darin stets klar und kraftvoll, schnurrt nicht und schmeichelt nicht, sondern singt in ebenmäßiger Artikulation. Klänge eines Solitärs. Eines Musikers, der einen einzigartigen Klang hatte und einen eigenen Weg verfolgte. Und eines afroamerikanischen Jazz-Riesen mit auffällig blauen Augen, dessen Bild vielen unweigerlich vor Augen tritt, die an filmreife mitternächtliche Stunden in einem Jazzclub denken.

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 27. Februar 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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