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Dokument der Freundschaft und der Selbstfindung Zu Edward Elgars "Enigma-Variationen"

Die Geburtsstunde der neueren britischen Musik schlug kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer am 19. Juni 1899, in der Londoner St. James's Hall. Bis dahin war der Komponist Edward Elgar wohl mit verschiedenen Orchester- und vor allem Chorwerken in Erscheinung getreten, ohne jedoch eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen.

Edward Elgar | Bildquelle: BR

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So rechnete am Abend der Uraufführung der "Enigma-Variationen" wohl keiner der Anwesenden damit, der Geburtsstunde des ersten symphonischen Meisterwerks englischer Herkunft beizuwohnen. Elgar hatte sich mit dieser Komposition endgültig als führender Tonsetzer seines Landes etabliert.

Spontaner Einfall zu einem Meisterwerk

Die Idee zu den "Variationen über ein Originalthema" op. 36, so der ursprüngliche Titel des Werks, war Elgar spontan beim Improvisieren am Klavier gekommen. Gegenüber seinem Freund Augustus Johannes Jaeger äußerte sich Elgar im Oktober 1898 brieflich über den Ideengehalt der Komposition: "Ich habe einen Satz von Variationen (für Orchester) über ein eigenes Thema skizziert: Die Variationen haben mir Spaß gemacht, weil ich sie mit den Spitznamen einiger besonderer Freunde überschrieben habe – Sie sind Nimrod. Das heißt, ich habe die Variationen jeweils so geschrieben, dass ich die Stimmung des oder der 'Beteiligten' darstelle. Ich habe mir dabei einfach versucht vorzustellen, wie der bzw. die 'Beteiligte' die Variation geschrieben hätte – wenn er oder sie dumm gewesen wäre zu komponieren. Es ist ein netter Einfall, und das Ergebnis wird die hinter den Kulissen amüsieren und andererseits den Hörer, der davon nichts weiß, auch nicht stören."

Freunde - in Musik gesetzt

Edward Elgar | Bildquelle: picture alliance / akg Edward Elgar | Bildquelle: picture alliance / akg Durch Vermittlung konnte Elgar den berühmten Dirigenten Hans Richter, Freund und Interpret von Wagner, Brahms und Bruckner, der kurz davor stand, die Leitung des Hallé-Orchesters in Manchester zu übernehmen, bitten, die Uraufführung der Variationen zu übernehmen. Elgars Brief an Jaeger zeigt, wie gering er seinen Bekanntheitsgrad sowie die Bedeutung der britischen Musik allgemein einschätzte: "Es wäre einfach zu liebenswürdig, wenn Richter ein englisches Stück von einem bisher nicht in Erscheinung getretenen Komponisten aufführen würde". Zu Elgars großer Freude sagte Richter zu; er sollte später noch mehrere Werke des Komponisten aus der Taufe heben. Die Uraufführung wurde ein großer Erfolg, wenn auch Elgar mit der Qualität der Interpretation nicht besonders zufrieden war. Die Überschriften der einzelnen Variationen lösten übrigens bei Presse und Publikum einiges Rätselraten aus; Elgar hatte lediglich Abkürzungen oder Spitznamen seiner Freunde verraten – erst später lüftete er deren Identität und schrieb kurze Kommentare zu den musikalischen Charakterzeichnungen.

Deutungsversuche eines Rätsels

Einige Worte sollten übrigens noch über den (erst nachträglich hinzugefügten) Titel "Enigma" (Rätsel) verloren werden. Elgar gab dazu wahrlich rätselhafte Anmerkungen: "Das Rätsel selbst werde ich nicht erläutern – sein 'dunkles Geheimnis' darf nicht erraten werden... Außerdem 'geht' durch und über den ganzen Satz ein anderes, größeres Thema, das aber nicht gespielt wird". Was das erste Rätsel angeht, so scheint es auf der Hand zu liegen, dass es sich um Elgar selbst handelt. In seinem später entstandenen Chorwerk "The Music Makers" erscheint das Thema der Variationen wieder, wo es nach Aussagen des Komponisten die Einsamkeit des schaffenden Künstlers repräsentiert. Außerdem passen die vier Silben des Namens "Edward Elgar" vom Sprachrhythmus her genau auf die vier erste Noten des Themas. Über das nicht gespielte "größere Thema" wurde noch mehr gerätselt, ohne dass je ein Ergebnis gefunden wurde. Die einen sagen, es sei der Kontrapunkt eines bekannten Volkslieds, andere behaupten, es paraphrasiere eine Passage aus einer Mozart-Symphonie, dann gibt es noch die Aussage, es sei gar kein Musik-Thema gemeint, sondern ein ideell-humanistisches wie der Wert der Freundschaft oder Elgars eigene Entwicklung als Komponist. Wie dem auch sei, dieses Geheimnis letztendlich für den Hörer genau so unerheblich wie diverse anekdotische Einzelheiten aus der Musik herauszuhören. Die "Enigma-Variationen" sind ein meisterhaftes Stück absolute Musik, das erste Meisterwerk eines genialen Komponisten und die ideale Widerlegung des Klischeebilds, England sei ein "Land ohne Musik".

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