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Gustav Mahlers Symphonie Nr. 3 Von der Natur hinauf zu Gott

Eine komplette musikalische Kosmologie wollte Gustav Mahler in seiner Dritten Symphonie erschaffen: von der unbeseelten Materie über Pflanzen, Tiere, Menschen und Engel bis hinauf zur göttlichen Liebe.

Gustav Mahler | Bildquelle: Internationale Gustav Mahler Gesellschaft Wien

Bildquelle: Internationale Gustav Mahler Gesellschaft Wien

Ein ungewöhnlicherer Beginn für eine Symphonie als die Anfangstakte von Mahlers Dritter lässt sich wohl schwerlich finden: Acht Hörner intonieren im Unisono ein Thema – halb Marsch, halb Volkslied, nicht fröhlich, aber auch nicht traurig. Es ist wie Musik vor dem Beginn der Zivilisation: eisern, monolithisch – beinahe wie ein klingendes Bergmassiv! Mahlers Dritte Symphonie ist wahrlich ein Werk, das alle Grenzen sprengt. Eine viel zitierte Äußerung Mahlers über seine Art zu komponieren bezieht sich nicht umsonst direkt auf dieses Opus: "Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen." Es ist tatsächlich eine ganze Welt, die sich dem Hörer in dieser gigantischen Partitur eröffnet. Zum einen gibt es in der ganzen Literatur wohl kaum eine längere Symphonie: Je nach Interpretation dauert sie zwischen gut 90 und über 100 Minuten. Die Besetzung ist riesig und umfasst neben einem sehr großen Orchester auch eine Solo-Altstimme sowie Frauen- und Knabenchor. Neuartig ist auch die Vielzahl der Sätze: Es sind nicht weniger als sechs! Und schließlich finden sich in Mahlers Dritter alle möglichen denkbaren musikalischen Genres – auch solche, die in einer Symphonie sonst eigentlich nichts verloren haben: von einfachen volksliedartigen Melodien bis zu den derben Klängen einer marschierenden Blaskapelle.

Mahlers Komponierhäuschen am Attersee

Von den Felsen hinauf zu Gott

Schafberg am Attersee in der Morgendämmerung | Bildquelle: imago/imagebroker Schafberg am Attersee in der Morgendämmerung | Bildquelle: imago/imagebroker Vollendet hat Mahler dieses Werk 1896 in seinem Komponierhäuschen in Steinbach am Attersee; in diesem Ort verbrachte er zu jener Zeit seine Sommerurlaube. Er äußerte sich über dieses Werk in Briefen und Gesprächen ausführlicher als über jede andere seiner Kompositionen. Es schwebte ihm eine regelrechte Kosmologie vor, die er in Musik zu setzen gedachte: von der unbelebten Materie über Blumen, Tiere, den Menschen und das Engelreich bis hin zur allumfassenden göttlichen Liebe. Ursprünglich hatte er vor, den sechs Sätzen charakterisierende Titel zu geben: "Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein", sollte der erste Satz lauten. Dann ging es weiter mit: "Was mir die Blumen auf den Wiesen erzählen", "Was mir die Tiere im Walde erzählen", "Was mir der Mensch erzählt", "Was mir die Engel erzählen" und schließlich "Was mir die Liebe erzählt". Auch wenn Mahler sein Programm später zurückzog (wahrscheinlich weil er Angst vor Fehldeutungen hatte), kann dessen Kenntnis zum Verständnis der Musik nicht schaden.

Die rohe Materie

Im über 30-minütigen ersten Satz geht es um die langsame Gestaltwerdung des Lebens aus der rohen, unbelebten Materie. Der Sommer, der hier nach Mahlers Worten einmarschiert, vertreibt allmählich die Schatten des Winters, haucht der Natur Leben ein und steht am Schluss als triumphaler Sieger da. Zu Beginn jedoch muss zuerst einmal die Entwicklung angestoßen werden. Und dies geschieht mit dem eingangs erwähnten signalartigen Thema in den Hörnern zu Beginn der Symphonie. Es steht für den "Weckruf", ohne den der Rest des Satzes nicht möglich wäre.

Die Blumen

 Silberwurz am Schafberg am Attersee | Bildquelle: imago/imagebroker Silberwurz am Schafberg am Attersee | Bildquelle: imago/imagebroker Nachdem die Natur zum Leben erwacht ist, kommen nacheinander die verschiedenen Lebensformen zu Wort – in aufsteigender Reihenfolge. "Tempo di Menuetto" ist der zweite Satz überschrieben, und er handelt von den Blumen: "Es ist das Unbekümmertste, was ich je geschrieben habe – so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. Das schwankt und wogt alles in der Höhe, aufs leichteste und beweglichste, wie die Blumen im Winde auf biegsamen Stielen sich wiegen." Unbekümmert in der Tat wirkt diese Musik, auch etwas altertümlich. Sie atmet, wie sonst kaum etwas in Mahlers Schaffen, einen Alt-Wiener Charme, besitzt die Gemütlichkeit eines handkolorierten Märchenbuchs.

Die Tiere

Im dritten Satz der Symphonie, einem Scherzo, betreten wir die Welt der Tiere. Als Vorlage nahm Mahler eines seiner Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn". Es trägt den Titel "Ablösung im Sommer" und beginnt mit den Worten "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen". Dem Kuckuck begegnen wir in diesem Satz ebenso wie dem Esel und anderen Tieren. Es ist eine ganze Menagerie, die da vor unseren Ohren vorbeizieht. Die Musik trägt einen zwar vorwiegend lustigen, aber auch doppelbödigen und gelegentlich sogar aggressiven Charakter. Wie schon einmal erwähnt: Programmmusik ist dies natürlich nicht, aber man sollte schon eine Ahnung bekommen von ihrem kreatürlichen Hintergrund, wenn man sie hört.

Der Mensch

Kurz bevor dieses Scherzo zu Ende geht, ereignet sich noch etwas Unvorhergesehenes, Schockierendes: Ein panischer Aufschrei des ganzen Orchesters stellt für kurze Zeit die Welt der unbeseelten Materie aus dem Kopfsatz wieder her, bevor der Satz in plötzlicher Hektik dem Ende entgegeneilt. Es ist ein Rückfall in den atavistischen Urzustand, bevor im vierten Satz der Mensch sich zu Wort meldet – sowohl in Mahlers Kosmologie, die er in seiner Dritten Symphonie zum Klingen bringt, als auch in Wirklichkeit: Eine Altstimme intoniert die Worte von Friedrich Nietzsches "Mitternachtslied". Mahler stand Nietzsches Philosophie übrigens durchaus skeptisch gegenüber, doch das "Mitternachtslied" aus "Also sprach Zarathustra" erschien ihm genau passend, um auszudrücken, was er an dieser Stelle der Symphonie sagen wollte: Mit dem Menschen ist auch das Leid in die Welt gekommen, denn einzig der Mensch hat die Fähigkeit, sich dieses Leids bewusst zu werden. Aber er ist auch in der Lage, Freude zu empfinden, die letztlich stärker ist als das Leid. "Weh spricht: vergeh. Doch alle Lust will Ewigkeit."

Die Engel

Engel befreit Petrus / Relief am St. Petersdom in Regensburg | Bildquelle: imago/imagebroker Steinrelief "Engel befreit Petrus" | Bildquelle: imago/imagebroker Die menschliche Leidenschaft ist im fünften Satz überwunden; die Engel, denen wir hier begegnen, singen von eine höheren Warte aus – heiter, aber ohne irdische Emotion. Bei aller himmlischen Heiterkeit gibt es jedoch auch Leid im Reich der Engel. Es wird verkörpert durch Petrus, der weinend seine Sünden bereut. Um ihm Gestalt zu verleihen, kehrt die Altstimme aus dem vierten Satz zurück. Doch die Klage bleibt Episode: Friedlich und gut gelaunt klingt der kurze Satz aus.

Die göttliche Liebe

"Was mir die Liebe erzählt" wollte Mahler den letzten Satz seiner Dritten Symphonie ursprünglich betiteln. Was er damit meinte, schrieb er seiner Freundin Anna von Mildenburg: "Das Motto zu diesem Satz lautet: 'Vater, sieh an die Wunden mein! Kein Wesen lass verloren sein!' Verstehst Du also, um was es sich da handelt? Es soll damit die Spitze und die höchste Stufe bezeichnet werden, von der aus die Welt gesehen werden kann. Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen 'Was mir Gott erzählt'. Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als 'die Liebe' gefasst werden kann." Es handelt sich um das erste große Adagio, das Mahler je schrieb. Der Schluss des Satzes gehört zu den schönsten Passagen seiner Musik überhaupt. Und zudem hat er nur wenig geschrieben, was von einem vergleichbaren inneren Frieden beseelt ist.  Ein inniges Ende eines gigantischen Werks.

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