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Donaueschinger Musiktage 2017 Erleben, was in der Luft liegt

20 Uraufführungen, 12 Spielstätten, 13 Ensembles. Allein am Samstag sechs Konzerte innerhalb von 14 Stunden. Stücke von Komponistinnen und Komponisten aus 18 Ländern. Dazu Lectures, Performances, Klanginstallationen. Ein überbordendes Programm ist in Donaueschingen die Regel. Trotzdem war das Programm in diesem Jahr so breitgefächert wie selten.

Donaueschinger Musiktage 2017 | Bildquelle: Donaueschinger Musiktage

Bildquelle: Donaueschinger Musiktage

Die vielleicht besten Momente gab es bei den Donaueschinger Musiktagen 2017 abseits der großen Orchesterkonzerte zu erleben: Etwa bei George Crumbs "Metamorphoses" für verstärktes Klavier, Toy Piano, Zusatzinstrumente und Stimme, hingebungsvoll gespielt von der Pianistin Margaret Leng Tan. Zehn bekannte Bilder von Vincent von Gogh bis Paul Klee hat Crumb in diesem intimen Zyklus eigens für die amerikanische "Diva des Avantgarde-Klaviers" vertont.

Musiker als Flüchtende verkleidet

Musiker führen am 21.10.2017 bei den Donaueschinger Musiktagen das Werk "Transit" von Michael von Biel Quartett Nr. 2 auf . | Bildquelle: picture-alliance/dpa Musiker führen bei den Donaueschinger Musiktagen das Werk "Transit" auf. | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Kontrovers diskutiert wurde das szenische Konzert des Solistenensembles Kaleidoskop aus Berlin mit Uraufführungen von Chiyoko Szlavnics, Michael von Biel, Dmitri Kourliandski und Sebastian Claren. Wobei die Musik hier vor allem als Leitfaden für die Choreographie von Laurent Chétouane herhalten musste. Chétouane, der Quereinsteiger, der erst Chemie-Ingenieurwesen und dann Theaterwissenschaft studiert hat, ist bekannt für seine aneckenden Arbeiten. In seiner "Transit" überschriebenen Aktion kam ein LKW mit als Flüchtenden verkleideten Musikern in die Halle gefahren. Assoziationen lagen schnell auf der Hand: Schlepper, Menschen auf der Flucht. Zu plakativ für manche Besucher, die auch dann noch murrend sitzen blieben, als die Musiker sie eindeutig dazu aufforderten, von der Tribüne aufzustehen und sich in Bewegung zu setzen. Denn darum ging es: in Bewegung kommen, aufeinander zugehen. Einige Verweigerer verbrachten den Rest des Konzertes lieber abgehängt im Dunkeln.

Atemlosigkeit & Katastrophenmeldungen mit Buh-Rufen

Aber auch in den Orchesterkonzerten gab es Spannendes zu entdecken: Phänomenal die aufs Publikum überschwappende Energie, mit der sich der gefeierte Klarinettist Gareth Davis in Bernhard Langs "DW28… loops for Davis" für Bassklarinette und Orchester bis an die Grenze der Atemlosigkeit spielte. Varietéhaft, jazzig, arabisch. Oder das Stück, das am stärksten um Weltaneignung bemüht war: Thomas Meadowcrofts "The News in Music (Tabloid Lament)" für Orchester, in dem der Australier hollywoodhafte Filmmusik mit Nachrichtenschnipseln kontrastiert. Panikmeldungen, die Tag für Tag in unser Leben schwappen, uns aber seltsam unberührt lassen: Schrecklicher Unfall - sinkende Umsätze - Katastrophe? Egal, dann tost die Musik einfach noch ein bisschen fröhlicher, noch ein bisschen lauter.

Auch hier gab es neben Applaus kritische Töne: Die tonalen Klangflächen, dazu die bildhafte Vertonung von Sirenen und Märschen in Meadowcrofts medien- und gesellschaftskritischem Stück waren zu viel für einige der alten Avantgarde-Anhänger. Da wurde lautstark gegrantelt ("Sind wir hier in 'ner Wellnessbude?", "Australian Bullshit!") und ausgiebig gebuht.

Es gab viel Konzeptkunst zu erleben, wobei die Kunst manchmal unkenntlich hinter dem Konzept verschwand, wie in Martin Schüttlers Stück "My mother was a piano teacher […]" - ein Beispiel für wenig Substanz bei enormem Materialaufwand. Weitere Höhepunkte in diesem Jahr waren das visuell gedachte und vom Ictus Ensemble interpretierte Ensemble-Stück "CUT" von Hanna Eimermacher sowie Chaya Czernowins klangfokussierte Orchesterkomposition "Guardian".

Musik tritt hinter Maschinen zurück

Bei aller Vielfalt lassen sich durchaus einige Tendenzen und allgemeine Entwicklungen für die zeitgenössische Musik ausmachen. Erstens: Fast kein Stück kommt mehr ohne Technik aus, von einfacher Verstärkung über Loops und Samples bis hin zu wirklich massiven Synthie-Sounds. Teilweise trat die Musik auch optisch hinter Maschinen zurück: Da saßen Musikerinnen und Musiker dann hinter einer Reihe von Gitarrenverstärkern, wie in Marina Rosenfelds "Deathstar Orchestration" für Klavier und Ensemble. Ein weiteres Beispiel: "Codec Error" für Schlagzeug, Kontrabass, Lichtregie und Elektronik von Alexander Schubert, gebastelt am IRCAM in Paris. "Egoshooter-Musik", "Machogehabe" murrten einige Besucher beim Rausgehen - ein weiteres Stück bei den Donaueschinger Musiktagen 2017, das polarisiert hat. Unbestritten zeigt "Codec Error" in Sachen Sound den State of the Art. Und ein Konzerterlebnis, zu dem man sich irgendwie verhalten musste: Immer wieder blitzten Stroboskop-Lichter ins Publikum und ließen die Leute zusammenzucken.

Gruppenprozesse in Donaueschingen

Damit wären wir beim zweiten wesentlichen Thema, das in der Musik unserer Zeit eine wesentliche Rolle spielt und bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen wichtig war: Gruppenprozesse. Über die vier Tage des Festivals hinweg wurde das Publikum selber zum Akteur: In der Performance-Aktion des Komponisten Bill Dietz. Hierfür verteilte Dietz ein schmales Büchlein mit dem Titel  "L’école de la claque", Schule der Claqueure. Darin in bemerkenswerter Detailarbeit zusammengetragen: zahlreiche historische und gegenwärtige Beispiele für Claque-Aktionen. Schon im 19. Jahrhundert bezahlten Komponisten wie Franz Liszt Menschen dafür, im Konzert zu klatschen oder Blumen zu werfen. Und heute nehmen Leute wie Donald Trump Geld für Claqueure in die Hand. In Donaueschingen gab es zwar kein Geld fürs Klatschen, aber jeder konnte mitmachen und sich selbst als partizipativen Teil ins Geschehen einbringen. Nicht alle Konzertbesucher fanden das angebracht. "Claqueure raus!", forderte eine Zuhörerin im Abschlusskonzert lautstark. Kurz zuvor hatten die Claqueure Dirigent Pablo Rus Broseta mitten im Stück lächelnd die Partitur weggenommen.

Geschlechtergerechtigkeit

Das dritte wichtige Thema bei den Donaueschinger Musiktagen 2017 und für die Szene allgemein ist die gesellschaftlich viel, aber im Musikbetrieb immer noch zu wenig diskutierte Geschlechtergerechtigkeit. Groß aufgemacht wie eine Traueranzeige prangte im Programmheft die Zahl 92,44 Prozent - so viele der seit 1921 in Donaueschingen aufgeführten Konzerte stammen von Männern. In der von BR-KLASSIK präsentierten Podiumsdiskussion "Thema Musik Live" diskutierten die Komponistin Hanna Eimermacher, die Posaunistin Abbie Conant, die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Treydte und die feministischer Vor- und Langzeitkämpferin Adrienne Goehler wichtige Genderfragen (Sendung "Horizonte" am 24.10. um 22.00 Uhr auf BR-KLASSIK). Eine wirkliche Geschlechtergerechtigkeit ist auch im Jahr 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen noch lange nicht erreicht (neun Komponistinnen, 17 Komponisten, eine Klangkünstlerin, fünf Klangkünstler). Aber immerhin: Zumindest im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage waren mit Bunita Marcus und Chaya Czernowin die Hälfte der aufgeführten KomponistInnen weiblich. Dass das Thema nun stärker diskutiert wird und sich die Donaueschinger Musiktage selbstkritisch zeigen, ist vor allem Björn Gottstein zu verdanken, der in diesem Jahr zum ersten Mal allein verantwortlich war für das Programm der Donaueschinger Musiktage, und dessen Handschrift deutlich heraus kam.

Björn Gottstein hat den Mut, auch radikaleren Positionen Raum zu geben. Es gab viel Reibung bei den Donaueschinger Musiktagen 2017, und in diesem Jahr zeigte sich stärker denn je: Es geht schon längst nicht mehr nur um Musik. Wir leben in einer vernetzten, technisierten, digitalisierten, globalisierten Welt, was sich auch im Programm widergespiegelt hat, in neuen Spielstätten und in Konzertformen abseits des üblichen Konzertrituals. Davon kann nicht immer alles funktionieren, aber erstens ist das kein Grund, es nicht zu probieren und zweitens ist vieles davon in diesem Jahr wirklich gut gelungen.

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