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6. September 1780 - Goethe schreibt "Wanderers Nachtlied" an eine Hüttenwand Spontane Eingebung mitten in der Nacht

Narrenhände, heißt es, beschmieren Tisch und Wände. Dichterhände tun das allerdings auch manchmal. "Über allen Gipfeln ist Ruh. In allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch": Schöne und berühmte Worte, vielleicht die berühmtesten überhaupt, in deutscher Sprache. Vertont von Schubert bis Schumann, von Zelter bis Reger, geschrieben hat sie Johann Wolfgang von Goethe, und zwar an die Wand der Schlafstube einer kleinen Jagdhütte, an den Hängen des Kickelhahns im Thüringer Wald.

Gemälde, 1775/76, von Georg Melchior Kraus (1737-1806) | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Der nächste Ort: Ilmenau, das Herzogtum: Sachsen-Weimar-Eisenach. Bei Ilmenau lagen alte Silberbergwerke, Goethe sollte untersuchen, ob da noch irgendwo wertvolles Erz im Boden sei, und wenn er schon mal dort war, hat er seinen Herzog auf die Jagd begleiten müssen. Oben am Berg hatte sich der Herzog bequeme, überdachte Unterstände errichten lassen, die Nächte hat man auf halber Höhe in einer einfachen Hütte verbracht, einsam gelegen, mitten im Wald, und da hat Goethe offenbar in einer besonders idyllischen Nacht die Dichtlust gepackt. Und weil in der Hütte kein Papier zur Hand war, hat er die Verse –von der Stille über den Gipfeln und den schweigenden Vögeln und dass auch wir bald ruhen werden – mit Bleistift ins Holz der Schlafstubenwand hineingeschrieben. Das war, man hat es erforscht, am 6. September 1780.

Wiedersehen nach fünfzig Jahren

Goethehäuschen, ehemalige Jagdhütte, im Winter, auf dem Berg Kickelhahn, bei Ilmenau | Bildquelle: picture-alliance/dpa Goethehäuschen, ehemalige Jagdhütte, auf dem Berg Kickelhahn bei Ilmenau | Bildquelle: picture-alliance/dpa Fünfzig Jahre später, als alter Mann, ist Goethe dann noch einmal den Kickelhahn hinaufmarschiert. Auf halber Höhe hat er die Jagdhütte inspiziert und ist sofort ins obere Stockwerk geklettert, um zu schauen, ob an der Wand das Gedicht noch zu lesen war. Und tatsächlich: da war es noch. Dem alten Herrn, heißt es, sei bei dem Anblick ganz wehmütig geworden und er habe sein schneeweißes Taschentuch gezogen. Aus sentimentaler Erinnerung, und vielleicht auch, weil er sein eigenes Schweigen schon nahen gespürt hat.

"Nachtlied" in zwanzig Sprachen

Mit der Inschrift an der Hüttenwand ist es dann auch bald zu Ende gegangen. Übernachtende Wanderer haben auf ihr Feuer nicht aufgepasst, Hütte und Gedicht sind abgebrannt. Hinterher hat man alles originalgetreu wiederaufgebaut, und wer heutzutage auf den Kickelhahn geht, der kann dort Goethes Gedicht übersetzt in mindestens zwanzig Sprachen lesen. Geschrieben auf einer modernen Tafel aus Plexiglas. Dicht nebendran, im Holz der Hüttenwände, haben viele Besucher ihre ganz privaten Inschriften hinterlassen. Ein zweiter Goethe war noch nicht darunter.

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