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Kritik – "Giselle" am Gärtnerplatztheater Liebesballett in der Scheune

Dieses romantische Ballett führt in den Wald, also ins Unterholz der Gefühle, wo sich sogar bodenständige Menschen leicht verirren können. Choreograph Karl Alfred Schreiner lässt die Arme mitunter wilder tanzen als die Beine. Ein zeitgemäßer Psycho-Trip mit überraschendem Ausgang.

Adolphe Adams "Giselle" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: © Marie-Laure Briane

Bildquelle: © Marie-Laure Briane

Bühnenbild wird zur Scheune

Klar, früher spielten sich die wirklich aufregenden Geschichten in der Scheune ab, auf oder hinter Heuballen. Da hatten die Gefühle freien Lauf, da konnten sich die Hormone austoben, bis dahin kam sie nicht, die gehobene Moral. In der Scheune regierte die Lust, die ja durchaus furchteinflößend sein kann. Wie viele Filme, wie viele Romane verlegen die Küsse in den Stadel! Und so hat es schon eine Richtigkeit, dass Choreograph Karl Alfred Schreiner und sein Bühnenbildner Heiko Pfützner ihre "Giselle" am Münchner Gärtnerplatztheater auf Stroh betten, also in einem Schuppen spielen lassen, wo es viele Verstecke gibt, viele geheimnisvolle und dunkle Ecken. Die Romantik liebte ja solche unübersichtlichen Gegenden, wie auch den Wald, der immer ein Sinnbild war für das Triebleben, für das Unbewusste.

Albtraum statt Realität

Adolphe Adams "Giselle" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: © Marie-Laure Briane Kostümbildner Talbot Runhof lässt sich von alpenländischer Folklore mit Tiroler-Hut und knielangen Hosen inspirieren. | Bildquelle: © Marie-Laure Briane Die titelgebende Giselle zweifelt an ihrer Liebe zu Albrecht, aber auch an sich selbst, sie weiß nicht so genau, ob sie wacht oder träumt, auch das ein Kennzeichen romantischer Geschichten. Und so lässt sie Karl Alfred Schreiner gleich zu Beginn einschlafen und alles Weitere als Albtraum durchleben, die Begegnung mit ihrer Nebenbuhlerin, mit ihren verdrängten Sehnsüchten, mit ausgelassenen Untoten, mit Leidenschaft und Tod. Das ist vor der Pause etwas arg bemüht, nach der Pause deutlich temporeicher und unterhaltsamer. Kostümbildner Talbot Runhof hatte sich von alpenländischer Folklore mit Tiroler-Hut und knielangen Hosen inspirieren lassen, was nicht gerade sonderlich erotisch wirkte, eher wie Satire auf Lederhosen-Filme. Mag sein, dass das verzerrend und überdreht gemeint war, wie Traumbilder nun mal sind. Auch Faune und "Wilis" haben ihren Auftritt, wie sich in Österreich der Sage nach die Seelen vor der Hochzeit verstorbener Bräute nennen. Ziemlich "spooky", wenig kleidsam. Es hat schon seinen Grund, dass "Giselle" nicht zu den ganz großen Ballett-Hits gehört: Das Innenleben lässt sich halt schwerer bebildern und noch schwerer tanzen als ein großer Ball oder ein rasantes Gefecht.

Rustikale und wenig tiefgründige Musik

Und die Musik von Adolphe Adam aus dem Jahr 1841 verliert sich gern im rustikalen Hörnerklang, ohne jemals wirklich überraschend oder tiefgründig zu sein wie etwa Carl Maria von Webers "Freischütz". Insofern ist das eine Wiederentdeckung für Kenner, allerdings mit einigen zeitgemäßen Einfällen: Dirigent Michael Nündel experimentiert die ersten zehn Minuten mit dräuendem Ambient-Sound, wie er für psychedelische Erfahrungen zitiert wird.

Kostüme sorgen für Gender-Dialog

Adolphe Adams "Giselle" am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: © Marie-Laure Briane Bildquelle: © Marie-Laure Briane Karl Alfred Schreiner lässt seine Tänzer erst durchweg in Männer- und dann in Frauenkostümen auftreten, ignoriert also optisch das tatsächliche Geschlecht und bringt den Gender-Dialog damit ebenso zum Vibrieren wie die Scheune, in der sich alles abspielt. Schreiner hat einen Hang zum Expressionismus, sodass das Ensemble stets in der Gefahr schwebt, die Arme mehr zu bewegen als die Beine. Drehungen werden gern, Sprünge fast gar nicht eingesetzt. Sie wären im Unterbewusstsein mit ihrer Akrobatik wohl auch fehl am Platz.

Überraschendes, realistisches Ende

Amelie Lambrichts in der Titelrolle ist eigentlich viel zu fröhlich und bodenständig, um eine so somnambule Person darzustellen. Aber gerade dieser Kontrast macht was her, und dass sie lernt, sich fallen zu lassen und ihrem Partner zu vertrauen, der sie auffängt, gehört zu den ergreifendsten Szenen. Alexander Hille als Albrecht ist ebenfalls von rustikaler Diesseitigkeit, wogegen Luca Seixas als Hilarion und Isabella Pirondi als Bathilde für den wilden Exzess zuständig sind, auch für Verführung und Narzissmus, was sie beides großartig verkörpern. Insgesamt zwei Stunden Psycho-Trip mit einem sehr realistischen Ende: Händchenhalten kann glücklicher machen als eine Orgie.

Sendung: "Allegro" am 18. November 2022 ab 6:05 auf BR-KLASSIK

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