Diversität im Kulturbetrieb gewinnt an Relevanz, auf der Bühne und hinter den Kulissen. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin zeigt: Vielfalt kann sich für Klangkörper nicht nur künstlerisch lohnen, sondern auch wirtschaftlich.
Bildquelle: Sarah Böttcher
Deutsche Orchester sind keine wirklich diversen Orte. Erst in den 1980er Jahren schaffte es bei den Berliner Philharmonikern überhaupt mal eine Frau ins Tutti. Bis heute liegt der Anteil von Frauen in Tutti-Positionen in den am höchsten vergüteten Orchestern bei knapp 35 Prozent – in Führungspositionen ist er mit etwa 22 Prozent noch mal deutlich geringer. Nur zehn Prozent der Chefdirigent:innen sind Frauen. Noch größer wird die Kluft, wenn es um migrantisierte, Schwarze, queere oder behinderte Menschen geht.
Nirgendwo an deutschen Mehrspartentheatern ist die Diskrepanz zwischen Personalzusammensetzung und der pluralen Gesellschaft größer als im Orchester- und Klassikmusikbereich.
Die Diversitätsagentin Leyla Ercan spitzt diese Erkenntnisse im Vorwort zu einer Studie so zu: "Nirgendwo an deutschen Mehrspartentheatern ist die Diskrepanz zwischen Personalzusammensetzung und der pluralen Gesellschaft größer als im Orchester- und Klassikmusikbereich." Übersetzt bedeutet das: Innerhalb dieses Betriebs haben Menschen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale schlechtere Chancen als andere, und zwar deutlich. Auch wenn diese Information weh tut – die Orchester wissen darum. Und einige von ihnen wollen gegensteuern.
Am 27. Mai 2025 rückt die ARD Diversität wieder in den Mittelpunkt ihrer Programme. Unter dem Titel "Gemeinsam sind wir Vielfalt" setzt die ARD einen Schwerpunkt unter dem Motto "Herkunft". Sendungen und Aktionen des BR im Rahmen des Diversity Tag 2025.
"Diversität ist uns ein echtes Anliegen - kein bloßes Schlagwort", sagt Thomas Schmidt-Ott, Direktor des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. "Für uns ist das eine langfristige institutionelle Aufgabe. Wir leben das in einer Diversity-Strategie und verhandeln das Thema ganz grundsätzlich in der Organisation und auch in der musikalischen Arbeit, von der Programmgestaltung über die Personalstruktur bis hin zu unseren Konzerten."
"Diversität ist eine langfristige institutionelle Aufgabe fürs DSO", sagt Thomas Schmidt-Ott, Direktor des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. | Bildquelle: Lea Hopp
"Aus meiner Sicht gehören eben alle sechs respektive sieben Kerndimensionen von Diversität dazu", sagt André Uelner, Agent für Diversitätsentwicklung und spezialisiert auf die Arbeit mit Orchestern. "Das betrifft eben ethnische, kulturelle Herkunft, geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religionen, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Alter und eigentlich auch sozioökonomischer Status oder soziale Herkunft und natürlich auch die intersektionalen Verschränkungen davon. Und ja, das fängt zum Beispiel damit an, dass man sich vielleicht auch mal dran gewöhnen könnte, dass eben nicht nur heteronormative Menschen auf der Bühne zu sehen sind, sondern Menschen in ihrer Vielfalt. Dass geschlechtliche Identitäten oder sexuelle Orientierung nicht verdeckt werden, sondern sichtbar werden. Dass nicht alles so normiert, so eindimensional ist."
Echte Diversifizierung im Orchester kann nicht nur die personelle Vielfalt meinen, so argumentiert auch Leyla Ercan in ihrem Vorwort. "Wir dürfen nicht in stereotype Vorstellungen von 'unintegrierbaren', 'unerreichbaren', 'kulturell uninteressierten' Menschen verfallen", schreibt sie. Deutsche Berufsorchester müssten beim Versuch, diverser zu werden, deshalb auch ihre Programmatik hinterfragen: ganz voran den "elitären, klassistischen Kunst- und Kulturbegriff und -betrieb, das koloniale Erbe der Musikgeschichte" und "die Definitions- und Deutungshoheiten über die Qualität von musikalischer Leistung". Dazu gehört für Ercan auch, die "Unterrepräsentanz von BIPoC-Komponist:innen und -Musiker:innen im Repertoire" zu problematisieren und "den Mangel an Vorbildern und Identifikationsfiguren für junge Menschen aus marginalisierten Gesellschaftsgruppen".
Wir dürfen nicht in stereotype Vorstellungen von 'unintegrierbaren', 'unerreichbaren', 'kulturell uninteressierten' Menschen verfallen.
Das DSO hat vor zwei Jahren einen ersten vorsichtigen Vorstoß gewagt und eine Saison lang kein einziges Konzert gespielt ohne mindestens ein Werk einer Komponistin im Programm. Die Reaktionen fielen heftig aus: "Ein gigantischer Shitstorm", erinnert sich Thomas Schmidt-Ott. "Sowas habe ich in meinem Leben noch nie erlebt, als es über die Abendschau des RBB in die Öffentlichkeit ging – mit Stereotypen von der allerfiesesten Art, dann aber auch einem faszinierenden medialen Echo. Das war die richtige Entscheidung. Und seither haben wir gemerkt: Die Erweiterung des Repertoires muss nicht unbedingt durch zeitgenössische Komponistinnen erfolgen, sondern auch durch die Forschung nach marginalisierten Gruppen in unserer Kultur."
In der kommenden Saison legt das DSO einen Fokus auf die Afrodiaspora und stellt das Programm unter das Motto "Composing while black". Thomas Schmidt-Ott sagt, dass sich das Team dafür Beratung und Kompetenz von außen holt, in diesem Fall unter anderem von dem Musikwissenschaftler Harald Kisiedu. "Außerdem sensibilisieren wir unser Team durch regelmäßige Workshops. Ich komme grade aus einem hochinteressanten Workshop über Rassismuskritik. Wir haben über feministische Kulturpolitik und Musikpolitik gesessen. Wir sind also regelmäßig im Austausch über solche Themen."
Diversität wächst hier also nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter den Kulissen – oder? Wie divers ist das DSO wirklich, wie steht es tatsächlich um die Chancengleichheit? Auf der Webseite sieht nämlich ausgerechnet die Führungsriege nicht wirklich divers aus. "In Sachen LGBTQI+ sind wir längst nicht da, wo ich eigentlich hinwollte", sagt Thomas Schmidt-Ott. "Wie viele klassische Orchester ist auch das DSO historisch nicht besonders divers aufgestellt. Aber wir sind in Sachen Geschlechtergerechtigkeit ungefähr bei 50 zu 50. Sowohl im Orchester, im Musiker:innenbereich als auch im Management, in der Verwaltung. Allerdings sind wir in allen Führungspositionen eher männlich dominiert." Zumindest in diesem Punkt unterscheidet sich das DSO dann wiederum nicht so sehr von den anderen Orchestern im Land.
Eines ist allerdings klar: Diversifizierungsprozesse dauern oft lang – gerade in der sehr einzigartigen Theaterlandschaft in Deutschland, wo zum Beispiel viele Orchestermusiker:innen unbefristete Verträge haben. Und auch wenn andere Maßnahmen wie etwa das Programm leichter zu bearbeiten sind, gehen Intendanzen damit auch ein Risiko ein. Verlieren sie ihr Publikum, wenn sie Werke von Komponistinnen spielen, ihr Konzertdesign verändern oder der Saison ein politisches Motto geben?
Beim DSO hat sich die neue Ausrichtung nach eigener Aussage bisher nicht negativ auf die Auslastung ausgewirkt, im Gegenteil: "Wir haben in den letzten Jahren unser Publikum stetig vermehrt", sagt Thomas Schmidt-Ott. "Mittlerweile sind wir eines der bestausgelasteten Konzertorchester der Stadt, fast ständig 100 Prozent. Wir verdienen gutes Geld an der Abendkasse und das, indem wir tatsächlich neue Zielgruppen, neue Milieus der Stadt an uns heranggeführt und auch langfristig gebunden haben."
Mit dem Vorstoß aus der vorletzten Saison hat es das Orchester in eine neue, bisher nicht erschlossene Öffentlichkeit geschafft: "Mit 'Kein Konzert ohne Komponistin' sind wir plötzlich auf Feminismusmessen unterwegs gewesen. Wir sind in deren Medien unterwegs gewesen. Wir wurden ein Gesprächsthema in diesen Milieus. Und dadurch moderner, jünger, frecher, aggressiver und präsenter." Thomas Schmidt-Ott ist allerdings wichtig zu betonen, dass das Orchester diesen Weg ernst meint: "Es war möglicherweise am Anfang auch ein bisschen marketingstrategisch gedacht, aber mittlerweile ist es zu einem künstlerischen Kern des DSO geworden. Und ich würde mir wünschen, dass er auf immer bestehen bleibt."
Wir wurden moderner, jünger, frecher, aggressiver und präsenter.
Diversität ist kein "nice to have". Orchester sind in Deutschland traditionell zum großen Teil öffentlich finanziert – und das will legitimiert sein, sagt André Uelner: "Orchester haben diese Aufgabe, weil sie von der Allgemeinheit gefördert werden und weil wir auch aus Studien wissen, dass die Bevölkerung die Arbeit insbesondere von Hochkulturinstitutionen als identitätsstiftend betrachtet." Auch, wenn es lange dauert: Der Aufwand lohnt sich.
Sendung: "Allegro" am 27. Mai 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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