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Zum 100. Geburtstag von Dietrich Fischer-Dieskau Welchen Einfluss hat er heute noch?

Am 28. Mai wäre der große Berliner Bariton Dietrich Fischer-Dieskau 100 Jahre alt geworden. Faszinierend: Die Meinungen über ihn gehen weit auseinander – selbst Fachkollegen beurteilen seine Qualitäten völlig gegensätzlich.

Dietrich Fischer-Dieskau | Bildquelle: BR

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Dietrich Fischer-Dieskau blieb bis zu seinem Lebensende im Jahre 2012 umtriebig als Gesangspädagoge, Buchautor, Maler und Dirigent. Seine aktive Sängerkarriere jedoch beendete er bereits 1992 im Alter von 67 mit einer Silvestergala an der Bayerischen Staatsoper. Durch den Abend führte damals Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot. Das ist mittlerweile 33 Jahre her. Seit seinem Bühnenabschied sind nicht nur viele Nachwuchskünstler an den Hochschulen ausgebildet worden und in den Beruf gestartet – viele wurden überhaupt erst nach Fischer-Dieskaus letztem Galakonzert geboren und befinden sich gerade in Ausbildung.

Fischer-Dieskaus Vermächtnis

Welche Rolle spielt Dietrich Fischer-Dieskau für Sängerinnen und Sänger heute noch? Der Mann, der über 3.000 Kunstlieder von etwa hundert verschiedenen Komponisten im Repertoire hatte und teils in mehrfachen Versionen vorgelegt hat. Wie etwa sein wichtigster aufgenommer Zyklus: Schuberts "Winterreise". Und der, was schnell in den Hintergrund gerät, sich auch im Konzertfach zahlreiche Bassarien aus Johann Sebastian Bachs Kantaten- und Oratorienwerk in Zusammenarbeit mit dem großen Bach-Dirigenten Karl Richter erarbeitet hat; der wichtige und schwere Opernpartien seines Fachs (Amfortas/"Parsifal", Wotan/"Rheingold", Wolfram/"Tannhäuser", Mandryka/"Arabella", Don Giovanni/"Don Giovanni", Hans Sachs/"Die Meistersinger von Nürnberg") auf den großen Bühnen wie der Bayerischen und Wiener Staatsoper oder der Deutschen Oper Berlin gezeigt hat; der sich mit Uraufführungen von Komponisten wie Aribert Reimann, Hans Werner Henze und als Premierensänger von Benjamin Brittens epochalem "War Requiem" verdient gemacht hat.

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Die Antwort ist nicht leicht. Fakt ist: Alle kennen ihn. Zwanzig Sängerinnen und Sänger haben sich gegenüber BR-KLASSIK geäußert: berühmte und weniger berühmte, einige seit Jahrzehnten erfolgreich im Geschäft oder noch im Gesangsstudium, alle im Konzert- und Opernfach zuhause, alle mit großer Affinität zum Genre Kunstlied, viele davon lyrische Baritone. Alle sind mit seinen Tonaufnahmen vertraut. Und alle respektieren seine Lebensleistung, die objektiv auch schwer kleinzureden ist angesichts der unfassbaren Zahlen, was erarbeitetes Repertoire, Aufnahmen und Auftritte auf bedeutenden Bühnen betrifft. Was aber die einzelnen Meinungen über den Gesang von Fischer-Dieskau angeht, so könnten diese weiter nicht auseinandergehen. Der Bariton Christian Gerhaher, selbst gefeierter Lied- und Opernsänger, steht zwischen den Generationen – als jemand, der einerseits als junger Sänger selbst nicht nur Bewunderer ("Epigone" gar, wie er selbst sagt), sondern auch Schüler von Fischer-Dieskau war. Und andererseits bildet er als Professor für Liedgestaltung an der Münchner Musikhochschule junge Sängerinnen und Sänger aus, wobei er selbst zwar seinen ehemaligen Liedmentor Fischer-Dieskau gelegentlich erwähnt, aber "nicht extensiv". Er ordnet die Widersprüche in den jeweiligen Statements für BR-KLASSIK ein.

Fischer-Diskau revolutionierte die Gesangsästhetik

Der Erlkönig - Franz Schubert [Dietrich Fischer-Dieskau] | Bildquelle: GedichteLernen (via YouTube) Dietrich Fischer-Dieskau singt Franz Schuberts "Der Erlkönig" | Bildquelle: GedichteLernen (via YouTube) Hier geht es um die Frage, wie seine Interpretationen einzuordnen sind. Fischer-Dieskau wurde und wird für seine intellektuelle Durchdringung des Kunstlieds, aber auch seiner Opern- und Oratorienpartien geschätzt. Wo in der Zeit vor ihm ästhetisch das Prinzip "Prima la musica e poi le parole" im klassischen Gesang vorherrschte, also grob übersetzt "Klang vor Wort", revolutionierte Fischer-Dieskau die Gesangsästhetik mit einem neuen Ansatz: die lyrisch-textliche Sinnebene und eben auch Verständlichkeit vereint mit den technischen Mitteln einer ausgebildeten Singstimme.

Was eine Linzer Masterstudentin als "interpretatorisch fad", ein renommierter lyrischer Bariton an einem wichtigen Staatstheater als "bemüht schön" und viele andere als "manieriert" empfinden, ist für einen Münchner Bassbariton aus der freien Szene "nicht gekünstelt, weil er konstant so gesungen hat und ich ihm alle Emotionen voll abgenommen habe, unerreicht!" Interessant ist auch die Meinung eines jungen Tenors aus Augsburg: Fischer-Dieskau habe oft den fürs Singen wichtigen Stimmbandschluss aufgegeben "auf Kosten von Gestaltung und Übergestaltung". Seine Interpretation sei oft ein "Pleonasmus" gewesen, also wie die Redundanz im beliebten Beispiel des weißen Schimmels. Wenn in einem Lied davon die Rede sei, dass das lyrische Ich vor Schmerz stöhne, müsse man "dies nicht auch nochmal in der Stimme abbilden". Zumindest nicht so naturalistisch, wie es seiner Meinung nach bei Fischer-Dieskau klinge.

Dietrich Fischer-Dieskau auf BR-KLASSIK

"Klassik-Stars: Zum 100. Geburtstag von Dietrich Fischer-Dieskau" am 28. Mai 2025 ab 18:03 Uhr auf BR-KLASSIK

Waren 3.000 Aufnahmen zu viel?

Christian Gerhaher kann diese Einschätzung teilweise nachvollziehen. Seine Gedanken hierzu: "Es ist nicht jedes Ergebnis ‘klanglich erfüllt’. Das kann ja auch gar nicht anders sein, wenn man so unglaublich viel Repertoire aufnimmt, vieles sogar mehrfach. Das Besondere am Kunstlied ist ja, dass jedes Lied eine eigene Klanglichkeit verlangt. Diese Singularität des Ausdrucks und der Bedeutung eines einzelnen Liedes bei 3.000 Aufnahmen zu bewerkstelligen – meiner Ansicht nach kann das nicht funktionieren. Trotz aller Bewunderung gibt es hier schon einige Aufnahmen, die ein gewisses Defizit an Aktualität erkennen lassen. Das führte zu einer gewissen Distanzierung von einem Teil des Publikums, aber auch von Kollegen. Ganz abgesehen davon, dass Fischer-Dieskau sagte: 'Lied, Oper, alles ist mit derselben Stimme und mit derselben Technik zu singen.' Das führte natürlich zu einer gewissen Erwartbarkeit dessen, was er mit einer Rolle oder mit einem Musikstück machen wird. Man könnte das als gewisse Manieriertheit bezeichnen."

Fischer-Dieskau-Fans schwärmen von seinem Schönklang

Dietrich Fischer-Dieskau während der ZDF-Aufzeichnung zur 'Kreuzstab-Kantate', Februar 1969. | Bildquelle: picture alliance/United Archives | 90060/KPA Dietrich Fischer-Dieskau während der ZDF-Aufzeichnung zur 'Kreuzstab-Kantate' im Februar 1969. | Bildquelle: picture alliance/United Archives | 90060/KPA Die Fischer-Dieskau-Fans unter den heutigen Sängerkollegen überschlagen sich in Superlativen, wenn es um die Frage nach dessen Schönklang geht: Einige rühmen sein unverwechselbar helles Timbre, die Leichtigkeit im hohen Register; Andreas Burkhart, Bariton im Chor des Bayerischen Rundfunks und Liedspezialist, betont Fischer-Dieskaus Ausgeglichenheit in allen Lagen; eine Sängerin nimmt sich "gerade als Sopran seine Sprach- und Stimmbehandlung" zum Vorbild, und selbst ein eher kritischer Sänger formuliert mit geradezu unfreiwilligem Respekt, dass Fischer-Dieskau "fast schon zu perfekt singt". Derselbe Sänger, selbst Bariton an einem der führenden deutschen Opernhäuser und auch ein vom Fachpublikum geschätzter Liedinterpret, meint hingegen zur Höhensicherheit seines Vorgängers, er sei einfach nur "ein fauler Tenor".

Weit verbreitet ist die wenig schmeichelhafte Ansicht, übrigens schon zu Fischer-Dieskaus aktiver Zeit, dass er ein Mikrofonsänger sei. Mit diesem Vorwurf ist gemeint, dass der Bariton seine Pianissimi, seine ungetrübte, unbedingt wortverständliche Klarheit in der Diktion, seinen bis hin zum Sprechgesang oder gar ins Sprechen gehenden Farbreichtum in der Singstimme nur deswegen so zeigen konnte, weil er, salopp gesagt, immer das Studiomikrofon direkt vor der Nase hatte. Das mag für seine Liedaufnahmen zutreffen, aber objektiv muss man eben auch festhalten: Fischer-Dieskau hat über einen Karrierezeitraum von weit über vierzig Jahren nicht nur einen schier übermenschlichen Output an Tonaufnahmen vorgelegt, sondern auch in großer Zuverlässigkeit und ohne lange Ausfallzeiten auf den größten deutschsprachigen Opernbühnen ausgewählte, aber wichtige und große Partien seines Stimmfachs gesungen. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass er mit seiner Technik beständig und langlebig singen konnte, ob man nun den Klang des Sängers mag oder nicht.

Natürlich Projektionskraft

Christian Gerhaher, der selbst mit den Farben in seiner Stimme spielt, gefällt Fischer-Dieskaus Art, zu singen. Er meint: "Diese ganz eigene Art, wie Fischer-Dieskau gesungen hat, beeindruckt mich bis heute. Er hatte diese Helligkeit in der Stimme, die eine natürliche Projektionskraft mit sich brachte. Ich habe ihn in einem seiner letzten Liederabende in der Deutschen Oper in Berlin mit Brahms' "Magelone" gehört. Ein starkes Werk, auch was die Sängerbeanspruchung betrifft. Ich saß zwar weit hinten, es klang aber alles absolut nah. Das ist eine Erfahrung, die nicht nur ich gemacht habe. Seine erstaunliche Projektionskraft und Stimmgröße befähigte ihn zu Unglaublichem, auch bei dramatischen Rollen."

Das komplette Interview mit Christian Gerhaher über Dietrich Fischer-Dieskau lesen Sie hier

So klingen wie Fischer-Dieskau?

Benjamin Appl | Bildquelle: © Lars Borges / Sony Classical Fischer-Dieskaus letzter Gesangsschüler: Benjamin Appl. | Bildquelle: © Lars Borges / Sony Classical Doch, es gibt diese eine Stimme, die sagt, sie würde gerne unbedingt genau so singen wie Fischer-Dieskau. Sie gehört einer berühmten Sopranistin und Gesangsprofessorin. Ob sie wirklich so singt und klingt wie der legendäre Bariton, ist ein wenig zu bezweifeln, alleine schon wegen des doch sehr abweichenden Stimmfachs. Tatsächlich gibt es aber einige Liedsänger, die klanglich und in der Artikulation auf den Spuren Fischer-Dieskaus wandeln: Der Name seines jüngeren Namensvetters Dietrich Henschel wird oft genannt, als Vertreter der jüngeren Generation ist Fischer-Dieskaus letzter Gesangsschüler Benjamin Appl zu nennen, außerdem Matthias Goerne, Christian Gerhaher, Thomas E. Bauer, viele andere. Generell, so auch der allgemeine Tenor bei den befragten Sängerkollegen, kommt man an Dietrich Fischer-Dieskau nicht vorbei, wenn man sich mit Liedgesang beschäftigt, ob man ihn nun gut findet oder sich bewusst abgrenzen will.

Die eingangs erwähnte, bestimmt auch von einer gewissen Schwärmerei bewegten Aussage, genau so klingen zu wollen wie der ikonische Sänger Fischer-Dieskau, bleibt eine isolierte Einzelmeinung. Der Konsens ist überwältigend: Die Sänger, besonders auch die jüngeren, sind sich darüber einig, dass man den Zugang zum eigenen Instrument finden, oder anders gesagt mit der eigenen Stimme singen muss. Die deutsche Mezzosopranistin Laila Salome Fischer, die sowohl auf der Opernbühne als auch im barocken Konzertfach brilliert, formuliert es so: "Nein, Fischer-Dieskau stimmlich nachfolgen, das möchte ich nicht. Ich sage das voller Hochachtung. Denn was hat ihn erfolgreich gemacht? Dass er seinen Weg, seine Stimme gefunden hat. Hören, lernen, selber finden, das ist die Devise." Dieses Zitat hätte bestimmt auch dem Gesangspädagogen Dietrich Fischer-Dieskau gefallen.

Dietrich Fischer-Dieskau als Abziehbild

Christian Gerhaher kann sich noch gut an seine eigenen Anfänge als Sänger erinnern. Für ihn war Fischer-Dieskau ein großes Vorbild: "Als ich studiert habe, gab es sehr viele Sänger, die man als Epigonen von Fischer-Dieskau bezeichnen konnte, mich inbegriffen. Ich finde es auch nicht problematisch, dass man sich einem Vorbild annähert in einer Phase, in der man sich selbst erstmal finden muss. Obwohl damals sehr vielen von uns vorgehalten wurde: 'Ach, das ist jetzt auch wieder so ein Fischer-Dieskau-Abziehbild'. Irgendwann hat man sich distanziert, was Eigenes entwickelt, was ja auch wichtig ist, um ein Sängerleben bestreiten zu können."

Kommentare (2)

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Mittwoch, 28.Mai, 01:37 Uhr

Klaus Wolter

Fischer-Dieskau

Ein Mikrofonstimme...?!?
Nein!!!
Hatte das unverschämte Glück diese Stimme im Rahmen des Schumannfestes in einem Liederabend auf der Bühne der Deutschen Oper am Rhein zu hören. Ja, das Programm klang auch für mein Ohren manieriert, aber die Zugaben, die auch ich lautstark einforderte, sang der Begnadete so frisch, jugendlich und mit so viel Freude und Natürlichkeit, daß einem das Herz überging. Nur die Erschöpfung beendete dieses Fest.
Ich erlebte ihn dann noch einmal in München unter Sawallisch, mit dem er sich hinter der Bühne fürchterlich fetzte: "Ich kann das zur Zeit nicht so schnell singen... Mach es langsamer, nimm das Tempo zurück.", aber in der Aufführung setzte sich der Maestro Sawallisch dann durch und Dieskau brillierte trotzdem.
Ja, in Gesprächen über Dieskau gab es, wie in ihrem Artikel, immer beide Standpunkte für PRO und CONTRA. Aber ich (jetzt 67 Jahre alt) schließe mich unbedingt der finalen Auffassung an: Ich = ICH.

Dienstag, 27.Mai, 23:08 Uhr

Dinah Kamm

Fischer-Dieskau zum 100. Geburtstag

Ich bin erschüttert, dass man in diesem Beitrag diesen Jahrhunderstsänger so emotionslos zu seinem 100.Geburtstag "bespricht".
Er war genial und hatte eine einmalig schöne, beseelte Stimme.
Ich bin glücklich und dankbar, ihn immer wieder, wenn er in München gesungen hat, erlebt zu haben.

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