Sie gilt als die "Synthese der Opernkunst des 19. Jahrhunderts", "die Oper par excellence", weit über Europa hinaus. Sie singt auf Schallplatten Russisch und Chinesisch, aus ihr wurde Ballett, Film und Kino-Oper, Hollywood-Musical, alternatives Musiktheater und Konzertprogramm: Carmen. Carmen! Immer und überall Carmen.
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Sie ist das eine Meisterwerk, dessen Schatten alles verschluckt, was Georges Bizet sonst noch geschaffen hat. Alle seine Opern, Suiten und Lieder – alles eine Reihe von Misserfolgen. Nicht aufgeführt, vergessen oder zu Bizets Lebzeiten rasch von der Bühne oder aus dem Konzertsaal verschwunden. Einige hat man "wiederentdeckt", aufgeführt wegen ihr – wegen Carmen.
Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen: Geboren wurde George Bizet am 25. Oktober 1838 in der Rue de la Tour d’Auvergne Nr. 28 im 9. Arrondissement von Paris als Alexandre-César-Léopold. Der Vater Laiensänger und Komponist, die Mutter Schwester des berühmten Gesangslehrers François Delsarte. Ein Wunderkind! Schon mit neun Jahren wurde Bizet Schüler des "Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris", des Pariser Konversatoriums, hatte Unterricht u.a. bei den gefeierten Komponisten Charles Gounod und Fromental Halévy, dessen Tochter er später heiratete.
Das Musikfeature: "Im Schatten einer erfundenen Frau. Oder: Georges Bizet und die Misere mit Carmen". Teil I Freitag, 30. Mai 2025 um 19:03 Uhr; Teil II Montag, 2. Juni 2025 um 19:03 Uhr.
Porträtaufnahme von Georges Bizet um 1875. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Mit der Kantate "Clovis et Clotilde" gewann er als Neunzehnjähriger den Rom-Preises, ein dreijähriges Stipendium inklusive Aufenthalts in der Villa Medici in Rom. Von dort schickte Bizet eine Buffo-Oper mit dem Titel "Don Procopio" an die Pariser Akademie. Doch die war im staubigen Regularium der Jury nicht vorgesehen: Verlangt war eine Messe. Doch Bizet wollte Opern komponieren! In Paris hatte die Götterdämmerung begonnen: Die Grand Opéra, die repräsentative Operngattung von Paris, dem Musiktheater-Nabel der Welt mit ihrem umjubeltem Meister Giacomo Meyerbeer, begann, übertönt vom Wagnerschen Musikdrama, in der unendlichen Melodie der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Es schlug die Stunde eines neuen Unterhaltungsmusiktheaters, geprägt von Jacques Offenbach. Der plädierte für eine Wiederbelebung der einfachen und wahren Opéra-comique des 18. Jahrhunderts. Bizet ließ sich nicht lange bitten: "La guzla de l’émir", "Clarisse Harlowe", "Grisélidis", "Djamileh". Kennt heute keiner mehr. Seine Nummernoper "Les pêcheurs de perles" – "Die Perlenfischer" vielleicht, wegen des berühmten Duetts "Au fond du temple saint". Aber wenn, dann doch nur wegen ihr: Carmen. Der gigantische Erfolg, die Antwort Frankreichs auf Wagner. Und doch für Bizet nur die nächste Station in einer Reihe von Misserfolgen.
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Alles, was in Paris Rang und Namen hatte, kam damals zur Uraufführung. Und Bizets Rolle als Komponist wäre es gewesen, die großen Erwartungen zu erfüllen. Doch schon während der Premiere wurde die Stimmung im Saal kühler und kühler. Ein "Delirium an Kastagnetten", "inkohärente Lumpen von Akkorden", "abgerissene Melodien", "unzusammenhängende Rhythmen" und "überladen" waren die gehässigen Kommentare zu Bizets "Carmen" nach der Uraufführung am 3. März 1875.
Drei Monate nach der Premiere starb Bizet, im Alter von nur 36 Jahren – an gebrochenen Herzen, munkelt man. "Carmen" aber erhebt sich wie Phoenix aus der Asche: Nicht einmal ein halbes Jahr nach Bizets Tod wird die Wiener Premiere der Oper ein rauschender Erfolg. Und innerhalb weniger Jahre avanciert sie zum Welterfolg.
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Doch die Oper, die da so ungeheuren Erfolg hat, war nicht die Opéra-comique, die Bizet geschaffen hatte – mit Rezitativen, geschrieben von Ernest Guiraud, der sich auch an einer Komplettierung von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" versuchte. Formal gesehen wurde aus der Opéra comique "Carmen" damit die Oper "Carmen". Dabei war das Werk doch gar nicht als eine Oper wie "La Traviata" oder "Il Trovatore" gedacht. Gut verständliche, gesprochene Texte, ausführlicher und die Figuren ausleuchtender als die neuen Rezitative hatte Bizet auf die Bühne heben wollen. Die Dramaturgie, die Balance von gesprochenem und gesungenem Wort, das Verhältnis von innerer und äußerer Handlung, von Vordergrund und Hintergrund – grundlegend verändert.
Mit den Rezitativen hielt das Pathos auf der Bühne Einzug, das Bizet offenbar hatte vermeiden wollen, und deckte zahllose Nuancen der Worte des Librettos von Henri Meilhac und Ludovic Halévy zu. Carmen wurde zum Inbegriff der Femme Fatale, obgleich sie doch gar kein Interesse daran zeigt, Männer in den Abgrund zu reißen. Die Musik des kubanischen Tanzes Habanera erklärte man zur spanischsten aller Musiken und "Toréador en garde" wurde als "Auf in den Kampf, Torero" zum martialischen Opernwunschkonzert-Hit.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche war ein Fan von Bizets "Carmen". | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS
Carmen stieg gar zum Contra gegen Wagner auf: Einer der scharfsinnigsten und geistreichsten Verfechter von Wagners musikdramatischer Konzeption, der Philosoph Friedrich Nietzsche, fand in ihr die Erlösung aus der endlosen Melodie des Bayreuther Meisters:
"Bizets Meisterstück (…) Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht und biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. 'Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen': erster Satz meiner Ästhetik. Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch: sie bleibt dabei populär. (…) Sie ist reich. Sie ist präszis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur 'unendlichen Melodie'."
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