Beim BRSO dirigiert Simon Rattle einen rein französischen Abend – mit Werken von Pierre Boulez, Francis Poulenc und Maurice Ravel. Musik, in der viel Rituelles steckt. Und auch privat pflegt Rattle einige Rituale, besonders vor Konzerten. Welche das sind, verrät er im Interview mit BR-KLASSIK.
Bildquelle: Astrid Ackermann
BR-KLASSIK: Sie dirigieren beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einen rein französischen Abend – mit Werken von Pierre Boulez, Francis Poulenc und Maurice Ravel. Alles drei Franzosen aus dem 20. Jahrhundert, die trotzdem alle in ganz unterschiedlichen Umfeldern und unterschiedlichen Stilarten gearbeitet haben. Was interessiert Sie an dieser Kombination?
Sir Simon Rattle: Es ist einfach ein wunderschönes Programm. Vor allem auch mit diesem großartigen Chor. Und weil er in "Daphnis et Chloé" ja quasi die wortlosen Chorteile singt, schien es für mich geradezu offensichtlich, dass ich dazu eines der größten A-Cappella-Chorstücke des letzten Jahrhunderts machen musste. Ich denke, das Poulenc-Stück gehört unter die Top Ten der Meisterwerke. Und viel zu wenige Leute kennen es. Ich erinnere mich, dass ich es zum ersten Mal in meinen frühen Zwanzigern gehört habe, als ich ein großes französisches Festival in London dirigiert habe. Von Poulenc war das letzte Stück. Und ich habe sogar fünf Minuten, nachdem es zu Ende war, geweint. Viele kennen Poulenc ja nur als diesen wunderbaren, brillanten, dekorativen, witzigen, lustigen Komponisten. Für die muss "Figure humaine" ein richtiger Schock sein. Für mich ist es ein Antikriegsstück. Und es steckt voller Worte, die wir in diesen Zeiten mehr denn je brauchen. Und es hat etwas ungemeinen Rituelles, Aufweckendes.
Wenn Sie jetzt wissen wollen, wie der Boulez da reinpasst, dann einerseits musikalisch, weil es ja eine Art Totenmesse ist, wie ein Totenritual also. Aber da ist noch mehr, etwas Persönliches. Und dafür muss ich eine Geschichte erzählen. Ich kannte Pierre Boulez, seit ich 15 war. Als ich ihn später einmal traf, erzählte ich ihm, dass ich ein Stück von ihm und eine Poulenc-Oper kombiniert habe. Ich dachte, er finde das verrückt, aber gar nicht. Er sagte: "Oh Simon, ich liebe Poulenc. Er war der wunderbarste Mann. Und er kam zu all meinen Premieren. Und er war so warm." Und dann sagte er, mit diesem kleinen Funkeln in seinen Augen: "Ich sah ihn auch auf den Partys." Das war für schwule Männer in den 50er- und frühen 60er-Jahren eine große Sache.
BR-KLASSIK überträgt das Konzert mit Sir Simon Rattle und mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks live aus der Isarphilharmonie in München: Am Freitag, 30. Mai, ab 20:03 Uhr im Radio und im Videostrem im YouTube-Kanal "ARD Klassik".
BR-KLASSIK: Sie haben jetzt einige Male das Wort Ritual benutzt. Gibt es auch etwas Rituelles in "Daphnis et Chloé"? Gibt es da auch eine rituelle Verbindung?
Maurice Ravel | Bildquelle: picture alliance/United Archives | WHA
Sir Simon Rattle: Nun, ich nehme an, dass in "Daphnis et Chloé" auch die Idee eines Rituals steckt. Ravel hat sich ja von der Antike inspirieren lassen. Da war das sehr beliebt. Mein Gott, wenn es irgendeine Religion gäbe, die so sinnlich ist wie das, was Ravel da produziert hat, würde ich mich sofort bei denen anmelden. Aber zurück zur Musik. In gewisser Weise ist es ein Ritual, wenn Daphnis et Chloé zusammenkommen, nachdem sie von den Piraten, die sie ja entführt haben, gerettet wurde. Da spielen sie die Nummer von Pan und Syrinx und feiern ihr Wiedersehen in einer Art Ritual. Dieses Unteilbare spielt auch in der Musik eine große Rolle. Ein absolutes Meisterwerk übrigens. Man könnte daran mindestens zehn Jahre die Theorie der Orchestrierung lehren. So viel steckt in dem Stück. Und dann diese Harmonien, die er verwendet. Wenn man da noch den Poulenc dazu nimmt, hat man im Grunde fast alle Akkorde, die jeder Jazzmusiker jemals in der Geschichte verwendet hat. Es ist eine ganz besondere Art, wie französische Komponisten Harmonien entwickelt haben. Das hat die gesamte Musikwelt stark beeinflusst. Und darum ist dieses Programm für mich das größte Vergnügen. Und auch für ein Orchester, das irgendwie das Gefühl hat, wir spielen nicht genug französische Musik. Jetzt sind sie richtig gesegnet mit "Daphnis et Chloé". Und ich muss sagen, es klingt bei dem Orchester wirklich wie französische Musik. Sie haben ein Gespür für die Farben.
BR-KLASSIK: Und privat, ritualisieren Sie Ihren Alltag irgendwie?
Sir Simon Rattle: Ich muss vor Konzerten schlafen. Dann brauche ich eine gute Tasse Kaffee vor Konzerten. Jeder hat so seine eigenen Macken, sage ich mal, die er tun muss. Bei mir kommt noch dazu: Ich bin sehr glücklich, wenn ich einige Momente der absoluten Ruhe haben kann. Und dann das wunderbarste Ritual überhaupt, ein Live-Konzert. Wenn Menschen an einem Ort ohne Worte zusammenkommen und feiern. Für mich – ich bin kein religiöser Mensch wie mein großartiger Kollege Herbert Blomstedt – ist das ein Ritual und ein feierlicher Moment. Wenn so viele Menschen in einem Saal still sind, dass man diese Stille spürt und fühlt, wie die Menschen atmen. Das ist eines der besten Rituale, an dem man teilnehmen kann.
Ich bin sehr glücklich, wenn ich einige Momente der absoluten Ruhe haben kann.
BR-KLASSIK: "Daphnis et Chloé" von Maurice Ravel ist ja eine Ballettmusik, im Auftrag für die Ballets Russes geschrieben. Wie steht es denn um Ihre Ballettkenntnisse? Haben Sie mal Ballett getanzt oder probiert?
Sir Simon Rattle: Ich bin ein wirklich berüchtigt schlechter Tänzer, aber ich habe Tanz schon immer geliebt. Einer meiner ersten Jobs als Profidirigent war, bei den Vorstellungen der Alvin Ailey Company in London, also dieser großartigen schwarzen Tanzkompanie, dirigiert zu haben. Und wenn möglich, bin ich auch in jede Ballettvorstellung von Baryshnikov in London gerannt. Was Alvin Ailey angeht – da gibt es noch etwas anderes, worauf ich tatsächlich stolz bin: Ich habe ihn nämlich davon überzeugt, er solle doch mal Strawinskys "Le Sacre du Printemps" choreografieren. Das hat er dann auch getan. Ja, da bin ich wirklich stolz drauf.
BR-KLASSIK: In gewisser Weise hat aber Dirigieren ja auch was mit Tanzen zu tun. Also die Tänzer bewegen sich zur Musik, Sie als Dirigent bewegen die Musiker dazu, Musik zu machen – und das Ganze mit meistens sehr, sehr schönen Händen.
Sir Simon Rattle: Natürlich, so ein Hauch von Ballett hängt in der Luft. Obwohl, Sie wollen nicht in der Nähe meiner Füße sein. Wie gesagt, Tanzen ist nicht mein Ding, aber zum Glück gibt es bei mir wenigstens etwas Rhythmusgefühl im Oberkörper. Mich fasziniert es total, mit Tänzern zu arbeiten. Man kann viel von ihnen lernen, weil wir sehen, was sie in der Musik hören. Das ist für uns Musiker schon eine sehr ungewöhnliche Erfahrung. Zu erleben, wie bei Tänzern Musik, Atem und Bewegung zusammenspielen.
Ich bin ein wirklich berüchtigt schlechter Tänzer.
BR-KLASSIK: Ravel hat diesen Auftrag bekommen und war ja der erste Franzose, der für die Ballets Russes Ballettmusik komponieren sollte. Und er war unfassbar langsam, weil er so akribisch gearbeitet hat und hat sich dann wohl auch mit dem Choreografen ein bisschen gestritten. Sind das Geschichten, mit denen Sie sich beschäftigen?
Der Choreograph Sergei Diaghilev | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Sir Simon Rattle: Das fasziniert mich schon. Und der arme, arme Diaghilev, der musste so lange warten, und am Ende war es nicht einmal ein Erfolg. Ich meine, wenn man die Partitur betrachtet, dann erkennt man die Sorgfalt, mit der Ravel gearbeitet hat. Und wir wissen, dass diese Schlussnummer "Danse Generale", die maximal vier Minuten Musik umfasst, ganz am Ende des Balletts, dass ihn die ein ganzes Jahr gekostet hat. Aber ich finde, es hat sich gelohnt. Diese feinen Klangfarben, was da alles in Nuancen und exotischen Klängen hineingewoben wurde. Nur ein Choreograf möchte ich nicht sein. Es ist sicherlich schwer zu inszenieren, weil es ja kaum Handlung gibt. Es ist eher eine psychologische Studie.
BR-KLASSIK: Trotz dieser verschiedenen kleinen Elemente wirkt es nicht wie ein Puzzle. Man sieht die Ränder nicht, man hört sie nicht.
Sir Simon Rattle: Das ist typisch Französisch, absolut typisch. Ich meine, auch bei Debussy kann man dieses Mosaik vollziehen. Lauter winzige Steinchen, die alle in einer Konstruktion vernetzt sind und die trotzdem ineinanderfließen. Man hört das nicht. Das ist so raffiniert. Das ist, wie es Alban Berg gesagt hat über seinen "Wozzeck". Da stecken viele Melodien dahinter. Da steckt ein intellektuelles Konstrukt drin. Aber ich will nicht, dass das irgendjemand bemerkt. Es ist also die Grundlage, das Gerüst. Aber es bleibt quasi unsichtbar.
BR-KLASSIK: Also, wenn man das Stück hört, dann fehlen einem keine Bilder. Die können wir uns dann selber vorstellen, oder?
Sir Simon Rattle: Ich denke, wenn dieses Werk keine Bilder hervorruft, keine Düfte, keine Atmosphäre, dann sollte man sich überlegen, ob man im richtigen Stück sitzt. Es erzählt uns etwas über uns selbst.