Mit ihrem bewegenden Timbre und ihrer intensiven Rollengestaltung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho eine Puccini-Interpretin par excellence. Ein Gespräch über ihren Schicksals-Komponisten und Puccinis Frauenfiguren.
Bildquelle: © Fadil Berisha
BR-KLASSIK: Frau Jaho, wie kam es, dass Puccini zu einem Schwerpunkt Ihres Opernrepertoires wurde?
Ermonela Jaho: Zu Beginn einer Laufbahn als Opernsängerin hat man zunächst nicht unbedingt die Kontrolle darüber, welche Rollen einem angeboten werden. Aber ich hatte mich bereits am Gymnasium in Puccini verliebt. Meine erste Begegnung mit Puccini war die Mimì in "La Bohème" – und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte von Anfang an einen Draht zu Puccini und seiner Musik – eine echte Herzensverbindung (lacht).
BR-KLASSIK: Puccinis Opernerstling handelt von den Willis, betrogenen Frauen, die aus Gram sterben, sich als Geister an den Männern rächen und diese zu Tode tanzen. Was für eine Musik hat Puccini in "Le Villi" für die Hauptfigur Anna geschrieben?
Ermonela Jaho: Das ist der erste Puccini überhaupt, seine erste Komposition, seine erste Oper. Die Musik ist bereits äußerst dramatisch, und wir hören schon erste Anklänge an den Puccini-Stil, wie wir ihn später aus "Manon Lescaut", "Madama Butterfly" oder "Suor Angelica" kennen. Puccini ist hier gleich so dramatisch, dass klar wird, wie ihn die französische Musik beeinflusst hat. "Le Villi" zeigt aber vor allem, dass Puccini auch ein großer Wagner-Verehrer war. Er liebte Wagner! Neben der ganzen Dramatik gibt es aber auch wunderschöne Melodien, mit denen er die Verletzlichkeit von Annas Seele ausdrückt.
Mimì in 'La Bohème' war Liebe auf den ersten Blick.
BR-KLASSIK: Verstehen Sie diese Frau in ihrem Handeln, in ihrer Rache?
Ermonela Jaho: Puccini setzt ihre Gefühle äußerst interessant um. Er verwendet nämlich dieselbe Musik, dieselbe Melodie, um die ganze Bandbreite ihrer Gefühle auszudrücken. In ihrer ersten Arie kommt sie schlicht und lieblich daher – dieses kleine Mädchen, das von der ewigen Liebe träumt. Und am Ende drückt die Melodie ihre Rache aus – es ist dieselbe Musik, wirklich unglaublich! Aber jetzt ist sie voller Dramatik, Rache, Zorn. Anna will sich unbedingt an Roberto rächen. Da ist nichts Liebliches mehr, jetzt ist sie voller Wut. Sie möchte sterben, ist nur noch ein Geist. Es geht um Dramatik, um Tragödie, aber auch um ewige Liebe. Letztendlich sterben sie gemeinsam.
BR-KLASSIK: Aber Anna wehrt sich wenigstens...
Ermonela Jaho: Ja, das stimmt, sie wehrt sich. Aber um ehrlich zu sein – alle Frauen bei Puccini machen sich stark für die Liebe und die Wahrheit. Sie kämpfen, jede auf ihre Weise, und sind gar nicht so schwach. Ihre Seele ist groß und stark, sie leiden und kämpfen für ihre Liebe. Dabei bedeutet kämpfen nicht immer, dass man deshalb sterben oder jemanden umbringen muss, sondern dass man seine inneren Kräfte mobilisiert. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man sich für etwas einsetzt, was einem extrem wichtig ist. Ich würde das bedingungslose Liebe nennen, wahre Liebe.
BR-KLASSIK: Puccini war ein Meister der Instrumentation. Haben Sie den Eindruck, dass er manchmal überorchestriert, die Singstimme überdeckt?
Ermonela Jaho: Puccini beherrschte das Spiel mit Kontrasten absolut meisterhaft, das sieht man auch in den Partituren ganz deutlich. Weibliche Hauptrollen wie Cio-Cio-San, Suor Angelica oder Mimì hat er immer im Pianissimo notiert, um ihre Verwundbarkeit auszudrücken. Nur an drei, vier Stellen in der ganzen Oper spielt das komplette Orchester. Da geht es zwar mehr um Drama und Energie – und nicht um Dezibel, aber dann ist das Orchester wirklich laut. Trotzdem hat er das so geschickt gemacht, dass die Sopranpartie das Ganze übertönen kann. Allerdings gibt es schon ein paar Stellen, an denen man auch mit der tollsten und kräftigsten Stimme der Welt über einem Orchester mit hundert Musikern nicht mehr zu hören ist … Das sind dann echte dramatische Höhepunkte, die aber nicht lange dauern, höchstens fünf bis zehn Sekunden. Insgesamt hat Puccini in seinen Opern für die weibliche Stimme ganz wunderbar komponiert und orchestriert.
BR-KLASSIK: Puccini hat aber auch das Spiel mit hochgepeitschten Emotionen gekonnt bedient, wenn wir nur an die Schlussarie der Cio-Cio-San aus "Madama Butterfly" – "Con onor muore" denken, bevor sie Harakiri begeht – eine wahrhaft herzzerreißende Szene!
Ermonela Jaho: Absolut. Man muss sich nur Eltern irgendwo auf dieser Welt vorstellen, die so etwas durchmachen müssen. Es ist wirklich herzzerreißend. Aber das Erschütternde ist nicht nur die Tatsache, dass Cio-Cio-San Suizid begeht – sondern dass sie es tut, weil sie für ihr Kind das Beste will. Sie weiß, dass sie ihm nichts bieten kann, da sie in völliger Abhängigkeit lebt. Und so sieht sie die einzige Chance für ein besseres, glückliches Leben für ihren Sohn, wenn er aus Japan weggeht. Sie opfert sich also für das Glück ihres Kindes.
In der modernen Welt, in der wir heute leben, ist vieles distanzierter und oberflächlicher, aber letztendlich sind wir immer noch Menschen, die sich nach bedingungsloser Liebe sehnen. Und das ist der Grund, warum Puccini diese wundervolle Musik geschrieben hat. Jedes Mal, wenn ich diese Arie singe, bin ich den Tränen nahe und ringe um Fassung. Und dann muss man diese Arie zu Ende bringen: Man sieht den kleinen Jungen und muss für ihn die glückliche Mutter spielen, damit er sie positiv in Erinnerung behält – dabei tötet man sich gerade selbst. Das ist eine echte Herausforderung!
BR-KLASSIK: Es gibt ja das Vorurteil, Puccinis Melodien seien süßlich, seine Musik gar Kitsch. Was sagen Sie dazu?
Ermonela Jaho: Das stimmt überhaupt nicht – wie kann man nur behaupten, Puccinis Musik sei Kitsch oder gar Trash! Hier geht es um Liebe und um menschliche Themen, die jeden von uns in seinem Leben irgendwann einmal betreffen. Aber wir haben heute Angst davor, uns unserer eigenen Verletzlichkeit zu stellen. Meiner Meinung nach sind sich Suor Angelica und Butterfly hier sehr ähnlich. Es geht um die inneren Kämpfe einer Mutter. Und wenn man ehrlich ist, passiert es auch heute noch, dass unverheirateten Frauen ihre Kinder weggenommen werden. Ich habe gerade in London eine Frau kennengelernt, die mir ihre Geschichte erzählt hat. Was sie erlebt hat, geht weit darüber hinaus. Meiner Meinung nach hat es keineswegs etwas mit Trash oder Kitsch zu tun hat, wenn man seine Gefühle offen auslebt, wie wir es gegenüber unserem Publikum tun.
Es hat keineswegs etwas mit Trash oder Kitsch zu tun, wenn man seine Gefühle offen auslebt.
BR-KLASSIK: Sie haben gerade "Suor Angelica" erwähnt, den mittleren Einakter aus Puccinis "Trittico", der von einer Tragödie einer Mutter in einem Frauenkloster handelt. Besteht da nicht manchmal die Gefahr, sich in solchen Rollen zu verlieren?
Ermonela Jaho: Ach, ich finde, es ist eine großartige Erfahrung! Denn nur, wenn die eigenen Gefühle echt sind, kann man mit dem Publikum in Kontakt treten. Die Leute gehen in die Oper, weil sie echte Dramen erleben wollen, nicht so etwas wie ihr alltägliches Leben. Und es ist die Pflicht eines Künstlers, ihnen dieses Erlebnis zu bieten. Natürlich ist es auch gefährlich. Manchmal kann ich nach einer Aufführung nicht schlafen, aber grundsätzlich ist es eine Freude für mich.
Die Sopranistin Ermonela Jaho singt gern Rollen in Puccini-Opern. | Bildquelle: picture alliance / Geisler-Fotopress Um was "Suor Angelica" betrifft: Die Oper ist so dramatisch, weil die Geschichte so schrecklich ist. Eine Mutter, die ihr Kind seit der Geburt nicht mehr gesehen hat, erfährt sieben Jahre später, dass der Junge gestorben ist. Diese dramatischen Geschichten sind für uns Sänger eine echte Herausforderung, denn man muss sich ganz darauf einlassen. Und das ist gefährlich, da haben Sie absolut recht. Aber meiner Meinung nach liegt genau darin die Schönheit unseres Berufs, die Schönheit der Kunst. Ich weiß, dass es keine unendliche Liebe gibt, und ich weiß, dass ich das hier nicht ewig machen kann. Aber ich lebe meinen Traum, seit ich in Albanien mit dem Singen angefangen habe. Seitdem gebe ich auf der Bühne alles. Ich lebe im Hier und Jetzt, weil man nie weiß, was morgen passiert. Das Leben ist voller Überraschungen. Jedenfalls haben Puccinis Opern eine kathartische Wirkung auf mich – und auf das Publikum hoffentlich auch.
BR-KLASSIK: Nehmen wir noch die Sklavin Liù aus Puccinis letzter Oper "Turandot" dazu, die sich wie Butterfly und Angelica das Leben nimmt: Warum begehen diese Frauen Selbstmord? Warum sterben überhaupt die meisten Frauen bei Puccini wie Manon Lescaut, Mimì oder Tosca?
Ermonela Jaho: Sie sterben alle aus Liebe. Ihre Liebe ist unermesslich. Die Essenz von Liù ist gleichfalls Liebe. Meiner Meinung nach ist diese Liebe auch die Verbindung zwischen all den weiblichen Hauptfiguren bei Puccini. Sie befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen, aber ihre Liebe ist immer zutiefst aufrichtig. Die eine opfert ihre Träume für ihren Liebhaber, die andere gibt ihr Leben hin wie Cio-Cio-San. Ja, ich glaube, es geht immer um diese große Liebe.
BR-KLASSIK: Sie sind in diesem Jahr 50 geworden. Wie könnte es weitergehen mit Ihrer Stimme, was würden Sie gerne noch singen?
Ermonela Jaho: Das ist eine gute Frage (lacht). Ich werde auf jeden Fall gut auf meine Stimme achtgeben. Einerseits wird sie wahrscheinlich noch etwas dramatischer werden. Denn ich liebe das Theater jetzt noch mehr als früher: So habe ich Francesco Cileas "Adriana Lecouvreur" geplant und werde nächstes Jahr für Puccinis "Manon Lescaut" an die Bayerische Staatsoper zurückkehren. Auf der anderen Seite werde ich wahrscheinlich lyrischer und auch reifer klingen. Irgendwann werde ich vielleicht keine Koloraturen mehr singen. Aber solange meine Stimme tiefe Gefühle ausdrücken kann, werde ich die entsprechenden Rollen singen. Sobald ich das nicht mehr kann, selbst wenn ich noch recht gut singe, werde ich mich zur Ruhe setzen. Denn eine Stimme ohne menschliche Gefühle ähnelt dann eher künstlicher Intelligenz. Und die wird niemals eine menschliche Stimme adäquat imitieren können.
Ich empfinde es als Privileg, dass ich Puccinis Musik singen darf.
BR-KLASSIK: Was verdanken Sie Giacomo Puccini? Er ist ja fast so eine Art Schicksals-Komponist für Sie geworden.
Ermonela Jaho: Ja, das stimmt. Er ist so echt, so authentisch. Und es gelingt ihm, menschliche Gefühle, die Gefühle der weiblichen Seele, in all ihren Facetten auszudrücken: Leiden, Stress, Pathos, Drama, Freude – einfach alles, was menschliches Dasein ausmacht. Und ich möchte als Künstlerin und als Mensch auch all diese Facetten zeigen: die guten wie die schlechten Seiten von Charakteren. Ich empfinde es als Privileg und Ehre, dass ich Puccinis Musik, die Musik meiner Seele, singen darf.
BR-KLASSIK: Am Ende von Puccinis Komponistenleben steht die Sterbeszene der Liù in seinem Opern-Vermächtnis „Turandot“, das er nicht mehr vollenden konnte. "Turandot" endet eigentlich mit dem Tod der Liù – eine interessante Tatsache, oder?
Ermonela Jaho: Ja, das ist interessant. Vielleicht wollte Puccini selbst ja auch an genau diesem Punkt sterben – falls ich da mal spekulieren darf –, eingehüllt in die unermessliche Liebe dieser Frau. Heutzutage wird ja meist die von Franco Alfano ergänzte Schlussversion gespielt. Aber eigentlich stirbt Puccini gleichzeitig mit Liù. Sie liebt Calàf so sehr und ist deshalb verwundbar, demonstriert aber gleichzeitig auch enorme Stärke. Sie zeigt, wie groß die Liebe sein kann, indem sie alles dafür opfert.
Sendung: KlassikPlus – Musikfrauen: Zum 100. Todestag von Giacomo Puccini. Zu Gast: Die Sopranistin Ermonela Jaho. Freitag, 29.11. ab 19:05 auf BR-KLASSIK. Wiederholung: Samstag, 30.11. ab 14:05.
Kommentare (0)