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Karina Canellakis dirigiert das BRSO Neuland mit Sibelius

In dieser Woche kehrt die amerikanische Dirigentin Karina Canellakis zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zurück. Ein Gespräch über ein ungewöhnliches Repertoire, Simon Rattle als Mentor und Kunst in schwierigen Zeiten.

Porträt der Dirigentin Karina Canellakis | Bildquelle: Mathias Bothor

Bildquelle: Mathias Bothor

BR-KLASSIK: Schön, dass Sie wieder da sind, Frau Canellakis. Sie waren ja schon mal 2020 während der Corona-Pandemie beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu Gast und haben damals ein Konzert ohne Publikum dirigiert. Das war schon eine etwas seltsame Situation, oder?

Karina Canellakis: Ja, ich freue mich, jetzt wieder mit dem Orchester in einer normalen Situation zu sein. Ich habe aber besonders schöne Erinnerungen an 2020. Wir haben mit Camilla Nylund Strauss-Lieder gemacht – und trotz dieser großen Abstände zwischen uns haben wir es geschafft. Wir haben auch "Verklärte Nacht" von Schönberg musiziert, das war vom Orchester sehr schön gespielt und eine sehr emotionale Erfahrung, weil wir in der Zeit alle ein bisschen verzweifelt waren. Deshalb war dieser Kontakt damals für uns so wichtig; er ist es immer noch und wird immer wichtiger.

Karina Canellakis dirigiert Lemminkäinen-Suite von Sibelius

BR-KLASSIK: Und wie war jetzt dieses Zurückkommen zum BRSO für Sie?

Karina Canellakis: Es ist eine große Freude, mit dem Orchester zu arbeiten. Es ist sicher eines der besten Orchester auf der ganzen Welt. Sie haben einen besonders schönen Klang, sie gehen auch gerne ins Detail – ich liebe es, Kleinigkeiten neu zu entdecken. Das BRSO ist ein neugieriges Orchester, finde ich. Es macht großen Spaß.

BR-KLASSIK: Jetzt müssen Sie in kurzer Zeit viel schaffen, denn das BRSO hat die komplette "Lemminkäinen-Suite" von Jean Sibelius erst einmal gespielt. Das war 2006 unter Esa-Pekka Salonen. Das heißt, für viele im Orchester ist das Stück wahrscheinlich auch Neuland?

Karina Canellakis: Ja, das stimmt. Es macht Spaß, ein Werk aufzuführen, das noch ganz frisch ist und ziemlich neu für alle – Mahler, Beethoven oder Tschaikowsky werden ja andauernd gespielt. Es gibt auch andere Werke von Sibelius wie zum Beispiel das Violinkonzert oder die Fünfte Symphonie, die sehr populär sind. Aber die vier "Lemminkäinen"-Legenden als Ganzes hören wir nicht so oft. Nur die zweite Legende, "Der Schwan von Tuonela", wird als kleines Tongedicht öfter mal separat aufgeführt. Aber diese vier Legenden zusammen aufzuführen, ist eine große Erfahrung für uns.

Es macht Spaß, ein Werk aufzuführen, das noch ganz frisch ist und ziemlich neu für alle.
von Jean Sibelius

BR-KLASSIK: Und auch eine Herausforderung, denn es ist eine kraftvolle Musik. Der Titelheld Lemminkäinen ist ja so ein nordischer Siegfried. Salonen hat damals gesagt, in dieser Musik stecke viel Testosteron...

Karina Canellakis: Ja, das Kraftvolle kommt meistens von den Bläsern. Die sind nicht so oft im Einsatz, aber wenn sie spielen, ist es sehr intensiv und oft ein bisschen übermütig. Man hört diesen Heldencharakter, das ist typisch für dieses Stück. Aber es auch gibt viele Stellen, die sehr leise sind. Da entsteht eine fantastische mystische Atmosphäre, genährt von den Geschichten aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala". Ich glaube, es gibt 50 Gesänge darin. Und wir wissen bis heute nicht ganz sicher, welche Episoden genau Sibelius daraus für dieses Stück benutzt hat. Aber ich finde besonders die Episode um den Schwan von Tuonela sehr emotional, denn es ist die Geschichte einer Mutter. Sie rettet ihren getöteten Sohn Lemminkäinen, nimmt seinen zerborstenen Körper aus dem Fluss und fügt ihn wieder zusammen. Sie gebraucht einen magischen Honig, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen. Es ist eben auch eine Geschichte von Mutterliebe. Da gibt es ein großes Solo für Englischhorn, und das wird sehr schön gespielt hier beim BRSO.

BRSO-Konzert live im Radio

Erleben Sie das Konzert des BRSO mit Karina Canellakis live im Radio auf BR-KLASSIK: am 2. Mai 2025 ab 20:03 Uhr.

Kaija Saariaho: "Lumière et pesanteur"
Maurice Ravel: Klavierkonzert G-Dur
Jean Sibelius: "Lemminkäinen-Suite", op. 22

Solistin: Alice Sara Ott
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Karina Canellakis

Ravels Klavierkonzert G-Dur mit Alice Sara Ott

BR-KLASSIK: Umso bekannter ist natürlich das G-Dur-Klavierkonzert von Maurice Ravel, das Sie zum 150. Geburtstag des französischen Komponisten dirigieren. Da ist das Orchester sehr eng verzahnt mit dem Solo-Part. Es hat ja auch was Jazziges. Das heißt, man muss als Dirigentin sehr reaktionsschnell sein?

Karina Canellakis: Wie alle Werke von Ravel ist es so perfekt geschrieben, ein bisschen wie ein Schweizer Uhrwerk. Alles ist genau so komponiert, wie es am besten funktionieren kann. Und diese realistische Qualität seiner Orchestration, diese besonders tiefe Kenntnis von jedem Instrument im Orchester ist, glaube ich, auch der Grund, warum dieses Stück so oft gespielt ist. Es ist wirklich perfekt.

BR-KLASSIK: Haben Sie schon mal mit der Solistin Alice Sara Ott zusammengearbeitet?

Karina Canellakis: Ja, Alice Sara Ott und ich haben dieses Ravel-Konzert letztes Jahr mit dem New York Philharmonic zusammen gemacht und wir werden es noch einmal im Juni mit dem Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra aufführen.

Karina Canellakis: Von der Geige zum Dirigierpult

BR-KLASSIK: Sie haben ja als Geigerin Ihre Karriere angefangen, waren Mitglied in der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker und wurden dann offenbar durch Sir Simon Rattle ermutigt, das Dirigieren zu probieren oder auch zu professionalisieren. Jetzt ist er hier Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. War das tatsächlich so, dass Sie ihm da einiges verdanken?

Karina Canellakis: Ich kann ganz ehrlich sagen, ohne Sir Simon Rattle wäre ich vielleicht nicht Dirigentin geworden, denn er hat mir ganz am Anfang den Mut dafür beigebracht. Ich wusste nicht, ob es als Dirigentin klappen würde oder nicht – und ich hatte ein sehr schönes Leben als Geigerin und überhaupt keinen Grund, warum ich alles ändern sollte. Ich liebe das Geigenspiel immer noch und vermisse meine Geige – aber Simon hat irgendwas gesehen. Ich glaube, er hat damals gesagt, ich hätte die richtige Persönlichkeit dafür, eine ganz natürliche Persönlichkeit für diesen Beruf. Und den kennt er natürlich bis ins letzte Detail, er ist ja sein ganzes Leben lang schon Dirigent. Er weiß genau, was man braucht – nicht nur um ein Orchester zu dirigieren, sondern auch um dieses Leben als Dirigent zu bewältigen, denn es ist ein sehr schwieriger Lebensstil. Wir reisen oft, wir studieren immer und wissen oft nicht, wo wir sind, wenn wir am nächsten Morgen aufwachen. Es ist immer eine andere Stadt und ein anderes Orchester. Deshalb muss man eine tiefe Liebe für die Musik haben. Manchmal habe ich das Gefühl, ich liebe die Musik fast mehr als das Leben selbst und ich brauche das, um genug Energie zu tanken.

Ohne Sir Simon Rattle wäre ich vielleicht nicht Dirigentin geworden.
Karina Canellakis

BR-KLASSIK: Inzwischen gibt es so viele Dirigentinnen, es werden ja immer mehr, dass es eigentlich nichts Besonderes mehr ist, oder?

Die Dirigentin Karina Canellakis | Bildquelle: © Mathias Bothor Die US-Amerikanerin Karina Canellakis dirigiert am 1. und 2. Mai das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. | Bildquelle: © Mathias Bothor Karina Canellakis: Es kommt darauf an, wo man steht und mit welchen Orchestern man arbeitet. Ich glaube, wir sind da auf einem guten Weg. Aber ich glaube auch, wir brauchen noch ein bisschen Zeit, bis es wirklich kein Thema mehr ist. Ich sage das, weil viele Leute noch Fragen stellen, was ich über Dirigentinnen denke und warum es noch nicht allzu viele gibt. Und ich habe keine Antwort darauf. Also ich bin zufällig eine Frau, aber ich bin Musiker und war es immer. Und ich habe nie gedacht, oh, ich bin eine Frau – und das ist was anderes. Hoffentlich werden es in den nächsten 20 Jahren noch mehr Dirigentinnen, sodass es dann wirklich kein Thema mehr sein wird.

Chefdirigentin in den Niederlanden

BR-KLASSIK: Beim Rundfunkorchester im niederländischen Hilversum haben Sie Ihre Chefposition bis 2031 verlängert. Das heißt, es besteht eine gute Verbindung zwischen Ihnen und diesem niederländischen Orchester?

Karina Canellakis:  Ja, ich liebe mein Radio-Orchester in Holland. Wir haben da in Hilversum was ganz Besonderes. Wir spielen natürlich oft im Concertgebouw und auch in Utrecht im TivoliVredenburg und manchmal auf Tournee. Es ist ein Top-Orchester, sehr kräftig, mit einer intensiven, sehr emotionalen Stimmung. Die lieben Musik – und das passt sehr gut zwischen uns.

BR-KLASSIK: Sie sind ja geboren und aufgewachsen in New York, haben am Curtis Institute in Philadelphia studiert und an der New Yorker Juilliard School. Wie oft sind Sie derzeit bei den US-Top-Orchestern zu Gast?

Karina Canellakis: Ich war im April beim Chicago Symphony und beim National Symphony Orchestra in Washington. Im Februar war ich zum zweiten Mal beim New York Philharmonic. Ich dirigiere auch oft das San Francisco Symphony und bin oft in Boston. Ich versuche, jede Saison mindestens drei oder vier große amerikanische Orchester zu dirigieren. Das ist auch für mich eine sehr wichtige Beziehung – es ist mein Land. Ich habe viele Freunde in jedem Orchester. Wir haben alle zusammen studiert, und es ist immer eine große Freude, meine alten Freunde zu sehen.

Stimmung der Angst in Kulturszene der USA

BR-KLASSIK: Wie nehmen Sie derzeit die Stimmung in den USA wahr?

Karina Canellakis: Ich spüre vor allem Angst.

BR-KLASSIK: Inwiefern?

Karina Canellakis: Generell ist die Stimmung in Amerika momentan kompliziert. Eigentlich weltweit, in der ganzen Welt ist es ein bisschen kompliziert momentan. Tja, was soll ich sagen?

BR-KLASSIK: Sie sind Amerikanerin, deswegen frage ich.

Karina Canellakis: Ich finde es sehr traurig, wie unsere Situation seit Januar unter diesem Präsidenten ist. Das ist für Künstlerinnen, für Frauen, für Ausländer ein Albtraum. Aber ich bin nicht hoffnungslos. Ich glaube, wir müssen noch kämpfen. Infolge dieser Oligarchie gibt es viel Angst im Moment. Aber hoffentlich ändert sich das. Wir haben viele super Politiker und jüngere demokratische Politikerinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez oder auch Bernie Sanders und die Obamas. Sie kämpfen – und hoffentlich wird alles okay.

Es ist wichtig, dass wir Museen und Konzerte haben, dass Kinder Musik und Ballett lernen.
Karina Canellakis

BR-KLASSIK: Auch für die Kultur ist es natürlich schwierig, weil Donald Trump auch Subventionen kürzt, obwohl die Top-Orchester in Amerika ja in erster Linie von Sponsoren leben. Wie schätzen Sie das ein?

Karina Canellakis: Es ist wirklich gut und sehr wichtig, dass alle amerikanischen Orchester und Opernhäuser privat finanziert sind. Das ist unsere Zukunft, denke ich. Auch in Holland haben wir jetzt viele Probleme mit unserer Regierung. Und es gibt auch viel Angst bei uns, was in den nächsten fünf Jahren kommen wird: Wird unser geliebtes Radio geschützt werden oder nicht? Es ist auch schwierig, weil es eine einsame Entscheidung von jemandem im Ministerium für Kultur ist. Und die ist auch nicht sicher. Es ist viel sicherer, wenn es Privatgeld ist und wir eine breite Basis für unsere Finanzierung haben. Ich hoffe, dass wir unser Kulturministerium in Holland und auch in Amerika irgendwie von der enormen Bedeutung überzeugen können, wie wichtig Kunst für die Menschen ist und wie wichtig es ist, dass wir Museen und Konzerte haben, dass Kinder Musik und Ballett lernen. Das ist alles sehr wichtig für uns Menschen.

Sendung: Live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz - Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, am 2. Mai 2025 ab 20:03 Uhr auf BR-KLASSIK

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