Autohupen, Schluckauf und Rülpsen: In Ligetis Oper "Le Grand Macabre" ist all das bis ins Detail notiert. Dirigent Kent Nagano eröffnet mit dieser Premiere an der Bayerischen Staatsoper die Münchner Opernfestspiele 2024. Die Kombination aus Ironie und rhythmischer Präzision fasziniert Nagano - für ihn ist die Oper ein Meisterwerk.
Bildquelle: Antoine Saito
BR-KLASSIK: Kent Nagano, das Autohupen-Konzert zu Beginn von "Le Grand Macabre" ist wahrscheinlich das berühmteste Stück aus der ganzen Oper. Wie sind Autohupen in der Partitur notiert?
Kent Nagano: Man kann die Notation als traditionell bezeichnen. Sie ist wie für normale Schlaginstrumente. Das heißt, die tiefen Töne sind auf der tiefen Position, und der Rhythmus besteht aus Vierteln, Achteln und Sechzehnteln.
BR-KLASSIK: Also man haut nicht einfach irgendwie auf die Hupe?
Kent Nagano: Man hat den Eindruck, es ist ein organisiertes Chaos. Wenn diese beiden Wörter in einem Atemzug genannt werden, bedeutet das normalerweise, dass etwas nicht funktioniert. Es gibt nicht nur den Grundschlag, sondern auch ein Art Kontrapunkt zwischen verschiedenen Hörnern. Es ist wie in einem Stau zur Rush Hour. Man hört in der Ouvertüre dieses laute, aggressive Hupen der Autofahrer. Es entsteht ein Gefühl von Unruhe. Das prägt dann auch die Atmosphäre der ersten Szene.
BR-KLASSIK: Können Sie denn überhaupt noch Autohupen hören, ohne sofort an Ligeti zu denken?
Kent Nagano: Meine Heimat ist Kalifornien. Ich glaube, wir sind Spezialisten darin, aggressiv zu hupen. Wir machen sehr viel Lärm. Vielleicht würde ich Ligeti hören, ich weiß es nicht.
BR-KLASSIK: Ligeti selbst hat diese Oper als Anti-Anti-Oper bezeichnet. Jetzt ist es in der Mathematik so, dass zwei Mal Minus eigentlich Plus gibt. Hebt sich das auch in der Oper wieder gegenseitig auf?
György Ligeti (1923 - 2006) | Bildquelle: H.J. Kropp Kent Nagano: Anti Anti steht für eine doppelte Verneinung. Es bedeutet also soviel wie: für Oper. Man spürt, dass da keine Geduld für Opernkonventionen ist. Es geht nicht um die Form, die Struktur oder die musikalische Idee von Oper. Ligeti hatte eine starke Verbindung zum Drama, zu Musik und Theater. Und das fühlt man auch durch die verschiedene Genres seiner Musik hindurch. Da war er sehr engagiert. Wenn man etwa an seine Volksmusik in der ganz frühen Phase denkt oder an seine Filmmusik, da spürt man seine Verbindung zu Stimme und Theater. Was man bei dieser ungewöhnlichen Ouvertüre sieht, widerspricht den Opernkonventionen des 20. Jahrhunderts. Ligeti versucht, sie zu zerstören. Es gibt ein Liebesduett, in dem man vielleicht den Komponisten Massenet erahnen kann. Es klingt sehr romantisch und tonal. Aber diese Duette sind irgendwie so absurd, dass man sie nicht wirklich ernst nehmen kann. Man muss lächeln und die Ironie dahinter erkennen. Dieses Gegen-die-Konvention drückt nicht Ligetis Respekt aus, sondern ist vielmehr ironisch gemeint. Er wollte einfach mit den Konventionen brechen.
BR-KLASSIK: Die beteiligten Stimmen singen ja nicht nur, sondern geben auch Geräusche von sich. Sie rülpsen, grunzen und schmatzen. Wie wird das notiert? Oder haben die Sängerinnen und Sänger Freiheiten, wann und wie sie das einsetzen?
Kent Nagano: Es ist fazinierend, aber das ist alles notiert. Und für alles, was Ligeti schreibt, gibt es einen Grund. Wenn beispielsweise Piet vom Fass zu viel getrunken hat, dann bekommt er Schluckauf und sein Bauch rumort. Das alles ist genau notiert: wie hoch, wie schnell und in welchen Synkopierungen. Wenn man das alles richtig ausführt, klingt es dann ganz natürlich. Wenn das Orchester ganz frei wäre, würde es schnell langweilig klingen. Es ist eine Form von Humor, der nicht anhält. Wenn man die Ideen von Ligeti respektiert, dann gibt es verschiedene Dimensionen. Natürlich spielt Spaß eine Rolle. Aber wenn man sich genau anschaut, welches Wort vielleicht durch ein bestimmtes Geräusch kaputtgemacht wird, das alles trägt zur Rolle des Charakters des Stücks bei. Es ist nicht einfach, einen Schluckauf genau ein Achtel nach dem Schlag zu platzieren. Aber dieses Timing ist wirklich entscheidend, um das Maximum an Ironie rauszuholen.
Manchmal mussten wir unterbrechen, weil wir so stark gelacht haben.
BR-KLASSIK: Das bedeutet aber, dass wirklich alle super konzentriert sein müssen – von der ersten bis zur letzten Sekunde. Das Stück hat ja nicht mal eine Pause. Das geht ja wirklich zwei Stunden durch.
Kent Nagano: Ja, man muss den Rhythmus lernen, ohne die Partitur auswendig zu lernen. Das ist, wie Deutsch zu sprechen ohne Wörter. Ja, die Technik bleibt immer eine große Herausforderung. Aber niemand wird sagen, dass es unspielbar ist. Wir haben sehr, sehr lustige Momente, wo wir plötzlich im Orchester und Cast unterbrechen mussten, weil wir so stark gelacht haben. Das Engagement geht hier vielleicht viel tiefer.
BR-KLASSIK: Sie haben Lachen angesprochen. Das ist ja etwas, was sonst in der Oper zu kurz kommt. Wie wichtig ist Lachen für Sie persönlich?
Kent Nagano: Ich glaube, Humor ist ein natürlicher Teil von menschlichem Ausdruck. Eine wunderbare Seite von Humanität. Humor ist ein essenzieller Teil unseres Lebens. Ohne den wäre unsere Welt sehr limiert. Man kann auf verschiedene Weise lachen. Man kann andere böse auslachen, über sich selbst lachen oder innerlich schmunzeln, weil man sich an etwas erinnert. Man kann auch laut lachen, zum Beispiel nach einem Fußballspiel.
BR-KLASSIK: Nach einem Eigentor?
Kent Nagano: Ja, zum Beispiel. (lacht)
Was erwartet das Publikum bei der Neuinszenierung von Ligetis Oper "Le Grand Macabre" durch Regisseur Krzysztof Warlikowski am 28. Juni in München? Hier bekommen Sie einen kleinen Vorgeschmack.
BR-KLASSIK: Es geht ja letztlich auch um eine Apokalypse, der wir gegenüberstehen. Jetzt war das in den 70er, 80er Jahren natürlich schon ein Thema. Stichwort Eiserner Vorhang. Es existierte das Wettrüsten, dann hat sich alles aufgelöst und ich habe fast den Eindruck, das Thema ist so aktuell wie damals: Wir haben Kriege, die uns immer näher rücken. Die ökologische Katastrophe scheint auch immer bedrohlicher zu werden. Wie apokalyptisch ist unsere Welt? Und wie gut passt das Stück da gerade rein?
Kent Nagano war von 2006 bis 2013 Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper. Jetzt dirigiert er dort György Ligetis "Le Grand Macabre". | Bildquelle: Sergio Veranes Kent Nagano: Ich glaube, für uns als Menschen ist es ein sonderbares Gefühl, wenn wir aus unserem täglichen Leben heraus denken, dass wir alles kontrollieren können. Ja, wir können pünktlich sein. Wir können zum Supermarkt gehen und etwas kaufen, wenn wir etwas brauchen. Wir glauben, dass wir unsere Entwicklung kontrollieren können. Aber wir wissen alle, dass das völlig falsch ist. Wir sind nur kleine Individuen, kleine Menschen. Die Apokalypse entzieht sich unserer Kontrolle. In dieser Oper wird ein Komet mit der Erde kollidieren. Wie soll man einen Kometen kontrollieren? Und was bedeutet das für unser Leben im Jahr 2024?
Live aus dem Münchner Nationaltheater: BR-KLASSIK überträgt die Premiere von György Ligetis Oper "Le Grand Macabre" am 28. Juni 2024 im Radio.
BR-KLASSIK: Haben Sie Ligeti eigentlich mal kennengelernt?
Kent Nagano: Ja, ich habe die Uraufführung von seinem Violinkonzert dirigiert. Später hat er in Hamburg gelebt und ich bin sehr oft zu ihm gegangen. Wir haben viel über Musik allgemein gesprochen, über Komposition und über "Le Grand Macabre". Das war in den späten 90er Jahren, direkt nach der Premiere der revidierten Fassung. Und Ligeti hatte verschiedene Ideen in welche Richtung das Stück gehen sollte. Er hatte einen sehr starken Charakter und war ein genialer Komponist.
Ligeti war ein genialer Komponist.
BR-KLASSIK: Wenn Sie diese Oper jetzt dirigieren, fühlen Sie sich danach energiegeladen oder haben Sie alle Energie ins Orchester und in die Sängerinnen und Sänger gegeben?
Kent Nagano: Nach jeder Vorstellung dauert es sechs bis sieben Stunden bis ich wieder zur Ruhe komme. Manchmal dauert es auch einen Tag. So wird es auch mit "Le Grand Macabre" sein. Wenn man Energie investiert, bekommt man viel mehr Energie zurück als man selbst investiert hat. So ist das immer bei Meisterwerken. Das ist raue Energie, Inspiration, Idee, Kreativität und Provokation, die man nicht anhalten kann. Es geht einfach weiter und weiter. Man kann das nicht einfach dirigieren und dann nach Hause gehen. Das ist unmöglich, finde ich.
Sendung: "Leporello" am 27. Juni 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Freitag, 28.Juni, 21:51 Uhr
Beate Schwärzler
György Ligeti - Le Grand Macabre
...dirigiert von dem auch mir sehr werten Kent Nagano.
Danke, sehr geehrter Maestro. Danke.
Dieser Abend wird unvergeßlich bleiben.
Stumm grüßt eine, die heute Abend einen neuen Ausblick sah.