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Kommentar Reinhören ist kein Hören

"Reinhören!" Große Lettern auf einem Screen in der S-Bahn-Station, Online-Seiten von Magazinen, Artikel in Zeitungen fordern dazu auf. Gern mit Ausrufezeichen und dem Hinweis, dass es sich lohne. Denn es gibt immer was zum "Reinhören". Das neue Album mit smartem Indie-Pop einer "unkaputtbaren" Band! Die "Tribute-Platte" einer Jazzgruppe, die "fetzige Cover-Versionen" spielt! Oder auch: "Der frische Nachfolger eines grandiosen Klassik-Debüts!" In all das soll man "reinhören" – und was dann? Bleibt es dabei? Ersetzt das "Reinhören" das "Hören"? Und was hat man dann davon?

Kopfhörer auf der "High End" Messe für Audioinnovationen | Bildquelle: © HighEnd Fotoservice

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"Reinhören": weit verbreitet, sehr beliebt und oft empfohlen. "Reinhören" ist das Verschaffen eines schnellen Eindrucks, um zu wissen, ob man mehr will. Ist legitim. Gleich nach dem Anfang des ausgewählten Stücks schnell mal den Geigen-Einsatz im ersten Satz antippen, ein bisschen lauschen, wie das ungefähr klingt, dann rasch weiterzappen zum zweiten Satz, wobei es natürlich am Ende des ersten auch eine sehr markante Stelle gegeben hätte – und schließlich zum Attacca-Beginn des dritten springen. Manchen Zeitgenossen würde auch nur der Anfang des dritten Satzes genügen. Der Rest: ist ja eh Vorgeplänkel. Oder?

Rein-Hören heißt An-Testen

Musik-Fachleute oder einfach gute Kenner praktizieren das Rein-Hören wie eine musikalische Weinprobe. Wer die Flüssigkeit im Mund zirkulieren lässt und sie dann wieder ausspuckt, kann sehr wohl testen, ob ein Weißwein eine Pfirsichnote hat oder eher an Zitrusfrüchte erinnert, ob sich in einem Rotwein etwas von Johannisbeere schmecken lässt oder ob er einfach nur auffällig viele Tannine enthält. Nicht ermessen kann man, wie sich der Wein im Magen anfühlt. Und am nächsten Tag im Kopf. Wer nur probiert, will das vermeiden. Wer aber trinkt - hat das ganze Erlebnis.

Musik mit allen Risiken und Nebenwirkungen

Hören – und nicht nur Rein-Hören – das heißt: sich einem Musikstück mit all seinen Risiken und Nebenwirkungen auszusetzen. Es zu erleben. Sich von Stimmungen hin- und herpeitschen zu lassen. Von Schmerz packen, von Schönheit ergreifen zu lassen. Das "ganze Werk" ist auch immer das ganze Gefühl. Und das ist es, was Kunstwerke geben wollen. Wer nur "rein"-hört, wird nie wirklich "hören" – und nie ganz drin sein im Zauber einer Musik. Selber schuld. Nur rein-gehört – und damit rein-gefallen.

Sendung: "Leporello" am 1. April 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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