Natürlich empfand er noch etwas für Clara Schumann. Aber die leidenschaftliche Freundschaft hatte einen Knacks bekommen. Und so reiste Johannes Brahms im Sommer 1873 nicht wie sonst zu Clara nach Baden-Baden, sondern an den Starnberger See. In Tutzing fand Johannes Brahms die nötige Muße und Inspiration zum Komponieren – und entwickelte sich in eine entscheidende Richtung.
Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library
"Tutzing ist weit schöner, als wir uns neulich vorstellen konnten. Eben hatten wir ein prachtvolles Gewitter; der See war fast schwarz, an den Ufern herrlich grün, für gewöhnlich ist er blau, doch schöner, tiefblauer als der Himmel, dazu die Kette schneebedeckter Berge – man sieht sich nicht satt", so schreibt Johannes Brahms an seinen Freund Hermann Levi nach München. Die Landschaft ist ein Traum. Noch heute.
Brahms-Haus in Tutzing | Bildquelle: Susanna Felix Gluckernd schwappt das Wasser an die hölzernen Bootshäuser. Hier am Ufer des Starnberger Sees spazierte Brahms im Sommer 1873 täglich entlang. Hinter einer dichten Hecke steht noch heute das "Brahms-Haus", damals Haus Amtmann, mit einem verschnörkelten hölzernen Balkon. Genau das Balkonzimmer hatte Brahms damals gemietet – für 25 Gulden. Vier Monate lang konnte er die herrliche Aussicht auf den See genießen. "Brahms war hier sehr produktiv", erzählt Christian Lehmann. Er hat intensiv zur Musikgeschichte am Starnberger See geforscht und auch seine Erkenntnisse zu Brahms Tutzing-Aufenthalt in eine Buch veröffentlicht.
So vollendete Brahms während seines Aufenthalts am Starnberger See unter anderem seine beiden Streichquartette op.51 in a-Moll und c-Moll, schrieb die sogenannten Haydn-Variationen und vollendete seine Lieder und Gesänge op. 59. Alles im Balkonzimmer? Eher nicht, meint Christian Lehmann. "Es gibt die Anekdote, dass er auch das Klavier mietete. Aber nicht etwa, um darauf zu spielen. Es war so verstimmt, dass er es abschloss, um sicher zu gehen, dass niemand darauf spielte." Für das Klavier legte Brahms nochmal 6 Gulden oben drauf. Soviel waren ihm seine Ohren wohl wert.
"Brahms-Pavillon" am Starnberger See | Bildquelle: picture alliance / Wagner Zum Komponieren zog sich Brahms in einen einsam gelegenen Pavillon zurück. Der gelbe Rundbau steht noch heute nicht weit vom Gasthaus Amtmann entfernt auf einer Landzunge am Seeufer, direkt neben dem Dampfersteg und dicht umrahmt von Bäumen. "Erbauen lassen hatte den Pavillon das Ehepaar Heinrich und Therese Vogl", erzählt Christian Lehmann. "Das war ein berühmtes Sänger-Ehepaar, das in Tutzing wohnte und vor allem mit Wagner-Rollen bekannt wurde. Die beiden waren mit Brahms befreundet und stellen ihm diesen Pavillon zum Komponieren zur Verfügung." Hier vollendete Brahms seine Lieder und Gesänge op. 59., zu denen auch das Lied "Auf dem See" gehört. Natürlich hat das Ehepaar Vogl die Lieder auch gleich ausprobiert, meint Lehmann: "Man darf sich das so vorstellen: Die Tinte auf dem Notenpapier war noch feucht, da haben sie in diesem Pavillon über den See hinaus das Lied 'Blauer Himmel, Blaue Wogen' oder auch das 'Regenlied' gesungen – begleitet von Brahms am Klavier."
Genau wie das "Brahms-Haus" ist auch der "Brahms-Pavillon" heute nicht mehr öffentlich zugänglich. Er befindet sich in Privatbesitz und ist total baufällig. Segelboote und Ausflugsdampfer kreuzen um die Landzunge hin und her. Aber das "Wahrzeichen, das stellvertretend für die Musikgeschichte am Starnberger See steht", verfällt mehr und mehr, erzählt Christian Lehmann. "Die Gemeinde Tutzing ist darüber sehr betrübt. Aber ihr sind die Hände gebunden, weil sich der Pavillon eben in Privatbesitz befindet. Der Besitzer hat offenbar kein Interesse daran, sich um dieses Gebäude zu kümmern."
Brahms-Denkmal in Tutzing | Bildquelle: Susanna Felix An quakenden Enten vorbei geht es weiter am Seeufer entlang. Die sogenannte Brahms-Promenade ist ein unscheinbarer Weg. Aber der offene Blick auf den See ist unbeschreiblich schön. Am Seeufer steht, umrahmt von den herabhängenden Zweigen einer Trauerweide, ein klobiger Gedenkstein. "Johannes Brahms komponierte in Tutzing drei Werke" ist darauf zum lesen. Das sei natürlich nicht ganz korrekt, meint Christian Lehmann. Es handele sich um drei Opuszahlen, die aber ja zum Teil mehrere Werke umfassen. Unzweifelhaft ist für Lehmann, dass sich Johannes Brahms in diesem Sommer in Tutzing deutlich in Richtung Symphoniker entwickelte: "Seine Haydn-Variationen in der Orchesterfassung werden oft auch als 'Symphonie in Variationen' bezeichnet. Es ist ein großes Orchesterwerk mit vielen Facetten. Und es ist auch nicht auszuschließen, dass Brahms hier in Tutzing 1873 auch an seiner Ersten Symphonie gearbeitet hat, die dann 1876 schließlich uraufgeführt wurde."
Auf der Plakette des Gedenksteins ist Johannes Brahms zu sehen wie er meist dargestellt wird: mit langem Bart. Etwas irreführend, findet Christian Lehmann. Denn Brahms kam als relativ junger Mann nach Tutzing. "Er war erst Anfang 40, sehr sportlich und ging jeden Morgen im See schwimmen. Den langen Bart hat er sich erst Jahre später zugelegt."
"Ich habe namentlich am See meine Freude gehabt. Jeden Morgen um 5 Uhr war ich drin und sonst mit dem Kahn hinaus.“ Das schrieb Brahms kurz vor der Abreise an seine Stiefmutter. Obwohl er die Zeit hier sehr genossen hatte, kehrte er nie wieder nach Tutzing zurück. Stattdessen versöhnte er sich wieder mit Clara Schumann und verbrachte die Sommermonate lieber wieder mit ihr. Was uns von Brahms' viermonatigem Aufenthalt am Starnberger See bleibt, ist wunderbare Musik, die Gedenkstätten und ein Kammermusikfestival, das die Pianistin Elly Ney bereits 1958 gründete. Bis heute finden die "Tutzinger Brahmstage" in der Evangelischen Akademie statt, ebenfalls direkt am Seeufer in Tutzing.
Sendung: "Allegro" am 23. Oktober 2024 um 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Mittwoch, 23.Oktober, 08:55 Uhr
Barbara Müller
Brahms in Tutzing
Danke für diesen wunderbaren Beitrag! Jetzt fahre ich noch lieber an den Starnberger See. Schöne Grüße an BR Klassik, an meinen Lieblingssender! Barbara Müller