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Kritik – Thielemann mit Brahms in Salzburg Magie und Fleißarbeit

Die Wiener Philharmoniker haben bei den Salzburger Festspielen ganz schön viele Noten auf den Pulten stehen. Am Donnerstag spielten sie Mozarts "Figaro", am Samstag steht Verdis "Macbeth" an. Dazwischen gab es am Freitag das "Deutsche Requiem" von Johannes Brahms. Dirigiert hat Christian Thielemann, den mit den Wienern eine enge Freundschaft verbindet. Im Großen Festspielhaus zaubert er unvergessliche Momente.

Christian Thielemann | Bildquelle: © Matthias Creutziger

Bildquelle: © Matthias Creutziger

Die ersten Töne verändern sofort die Wahrnehmung. Ganz am Anfang ist da nur der pulsierende Orgelpunkt tief im Bass. Kaum hörbar setzt eine kleine Gruppe der Celli ein mit einer sehr traurigen und berückend schönen Melodie – so leise, dass das Ohr die zarten Töne förmlich aufsaugt. Erst die Bratschen lassen die unwirkliche Melodie verhalten leuchten. Und dann fängt der Chor im pianissimo zu singen an. Drei Akkorde nur, die einen weiten Raum öffnen und doch so nahegehen. Ein atemberaubend schöner Moment. Ist das Magie? Oder raffiniertes Kalkül? Oder schlicht überragendes Handwerk? Jedenfalls geht der erste Satz ("Selig sind, die da Leid tragen") sofort unter die Haut. Zum Weinen schön. Ein Abend, der so losgeht, hat sich gelohnt, egal, was auch immer danach kommen mag.

Thielemanns Spezialität: Steigerungen

Christian Thielemann dirigiert ohne Stab, wie es eigentlich eher bei unbegleiteten Chorwerken üblich ist. Und wirklich steht in Brahms' "Deutschem Requiem" der Chor ganz im Zentrum. Auf der Riesenbühne des Großen Festspielhauses sucht Thielemann den intensiven Kontakt bis in die letzte Reihe des groß besetzten, üppig klingenden Wiener Singvereins. Mit kleinen Handbewegungen formt er zu Beginn die Bögen, dann, wenn die Steigerungen größer werden, mit der Neigung des Körpers, bis hin zum Schritt nach vorn, wenn der Höhepunkt der Phrase kommt. Allmähliche Steigerungen zur maximalen Wirkung bringen – das kann Thielemanns so gut wie kaum ein anderer Dirigent. "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras", "Hölle, wo ist dein Sieg?" – die großen Höhepunkte lassen an dramatischer Wucht nichts zu wünschen übrig. Auch die beiden Solisten, Elsa Dreissig und Michael Volle, singen phantastisch.

Erdenschwere Fugen werden zum Problem

Aber dann kommen die Fugen. Und mit denen hat Thielemann ein Problem: Wo er sonst sorgfältig Bögen formt und Zielpunkte zeigt, gerät er plötzlich in ein gleichförmiges Skandieren, sobald eine Fuge losgeht. Jeder Taktschlag wird betont. Der Schwung ist weg, die Tempi sind schwerfällig, es riecht nach Kontrapunkt-Lehrbuch und Fleißarbeit. "Die Erlöseten des Herrn" bleiben erdenschwer, "der Gerechten Seelen" klingen nach Eiche Fournier. Und das ist so schade! Offenbar versteht Thielemann Brahms' Fugen von der Instrumentalmusik her, als würde man sie auf der Orgel spielen, wo alle Töne gleich laut sind. Aber Brahms orientierte sich bei dieser Musik weniger an Bachs Orgelwerken, als vielmehr an der Vokalpolyphonie von Heinrich Schütz. Auch die Fugen müssen sprechen, atmen, schwingen!

Frei von Sentimentalität

Doch das ist der einzige Schönheitsfehler an einem bemerkenswert inspirierten Abend. Natürlich kann man das alles auch ganz anders machen, viel schlanker und sehr viel schlichter. Aber das, was Thielemann macht, ist eben auf seine Weise toll. Und bei aller Klangschwelgerei absolut frei von Sentimentalität. Den heiklen vierten Satz ("Wie lieblich sind deine Wohnungen"), der sonst oft verkitscht wird, nimmt er dankenswerterweise angenehm leicht und rasch. Und der magische Beginn, der wirklich überwältigend schön war, wird ohnehin lange im Gedächtnis bleiben.

In einer früheren Version dieses Artikels war fälschlicherweise von der Wiener Singakademie statt dem Wiener Singverein die Rede. BR-KLASSIK hat den Artikel entsprechend korrigiert.

Die Salzburger Festspiele 2023 bei BR-KLASSIK

Lesen Sie alle Neuigkeiten rund um die Salzburger Festspiele in unserem Dossier.

Sendung: "Piazza" am 29. Juli 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Freitag, 04.August, 12:21 Uhr

Diethart Lehrmann

Konzert: "Requiem" in Salzburg

nach all dem, was ich hier mit Sorgfalt gelesen und "ich" gehört habe, ist eine Heiligsprechung des Dirigenten nicht mehr aufzuhalten.

Sonntag, 30.Juli, 21:21 Uhr

Perger

Brahms Deutsches Requiem

Ein epochales Musikerlebnis.Standing Ovationen.Was soll da eine konstruierte Kritik über ein schwieriges Fugenverständnis.

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