BR-KLASSIK

Inhalt

Kritik – "Figaros Hochzeit" an der Bayerischen Staatsoper Darauf einen Joint

Es wird inhaliert in dieser Komödie, und zwar nicht nur Mozart. Der russische Regisseur Evgeny Titov setzt auf Tempo und Witz einer Boulevardkomödie in der Cannabis-Plantage. Das ist unterhaltsam, aber nicht über die volle Länge, zumal Dirigent Stefano Montanari zu einem exaltierten Stil neigt.

Szene aus "Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper (Oktober 2023) | Bildquelle: W. Hösl

Bildquelle: W. Hösl

Nachtkritik

"Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper

Eines steht fest: Diese Geschichte spielt nach der Cannabis-Legalisierung, also vermutlich im kommenden Januar. Und so, wie es aussieht, lässt sich mit einer Hanfplantage dann gutes Geld verdienen, wenn es den Besitzer auch nicht unbedingt so richtig reich macht. Graf Almaviva jedenfalls hat seinen Betrieb zwar in einem heruntergekommenen Schloss eingerichtet, aber außer einem Tresor voll Bargeld, einem Revolver und ein paar schicken Stahlrohrmöbeln ist augenscheinlich noch nicht sonderlich viel dabei rumgekommen. Eher schäbig, die Gegend, aber immerhin, die Kommune, die sich hier auslebt, steht nicht nur auf weiche Drogen, sondern auch auf sanften Sadomaso-Sex.

Radio-Tipps

BR-KLASSIK hat die Premiere von "Le nozze di Figaro" live aus der Bayerischen Staatsoper übertragen. Den Mitschnitt gibt es 30 Tage lang zum Anhören.

Für eine Boulevardkomödie zu lang

Szene aus "Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper (Oktober 2023) | Bildquelle: W. Hösl Bildquelle: W. Hösl Wer sich die Haare schön machen lässt, landet auf einem ferngesteuerten Sessel, der dem Kunden nicht nur die Beine auseinanderspreizt, sondern gleich auch noch eine Batterie von Dildos bereithält. Abgefahren, diese Ausstattung von Annemarie Woods, wie für eine Boulevardkomödie von Yasmina Reza. In der ersten Stunde wird auch viel gelacht, aber der russische Regisseur Evgeny Titov hat bei seiner flotten Interpretation übersehen, dass Boulevardtheater in der Regel nach zwei Stunden vorbei ist, "Die Hochzeit des Figaro" aber fast doppelt so viel Zeit in Anspruch nimmt. Klar, es schadet nicht, sich am italienischen Stegreiftheater zu orientieren, an der Commedia dell'Arte, mit ihrem Tempo, ihrem Witz, ihrer Lust an der Anarchie und frechen Anspielungen. In diesem Fall ging dem Abend aber leider zunehmend die Luft aus, obwohl alle Mitwirkenden voll motiviert dabei waren.

Mozart als revolutionärer Gesellschaftskritiker

Mozart, der revolutionäre Gesellschaftskritiker, wollte sein Publikum amüsieren, kein Zweifel, aber auch mit der bitteren Wahrheit konfrontieren: Die Menschen scheitern an sich selbst. Das blieb bei Evgeny Titov sehr im Hintergrund. Es dominierten der Klamauk, die dralle Komik. Cannabis und Champagner in wilder Mischung, das hinterließ einen Schwips, nicht nur bei den Darstellern, auch beim Publikum. Leicht benommen wurde es entlassen, der Applaus war gleichwohl sehr freundlich.

Link-Tipp

Die Bayerische Staatsoper inszeniert die Kult-Oper "Die Hochzeit des Figaro" neu. Anlass für uns, die bislang besten Live-Mitschnitte des "Figaro" zu küren. Diese fünf Videos sind unsere Favoriten.

Stefano Montanaris Dirigat wirkt fast surreal

Zum etwas surrealen Eindruck trug das Dirigat von Stefano Montanari bei, einem Spezialisten für Barockmusik, dessen Körpersprache so ausladend und theatralisch war, als ob er persönlich Elefanten durch die Arena von Verona geleiten musste. Insofern ist er als Dirigent kinotauglich, was seine Gesten betrifft, auch mit seinem ungewöhnlichen Outfit: Er trat mit Lesebrille und in schwarzer Lederhose ans Pult. Gut, dass das Bayerische Staatsorchester diesem exaltierten Charme nicht vollends erlag, sonst hätte Mozart vermutlich wie Richard Strauss geklungen. So dagegen war jederzeit zu hören, dass Mozart zu den Münchner Hausgöttern zählt und die Musiker notfalls auf Autopilot umschalten. Ein paar kaum hörbare Proteste musste Stefano Montanari verkraften, während das Orchester gefeiert wurde.

Konstantin Krimmel | Bildquelle: Bayerischer Rundfunk 2023

Bildquelle: Bayerischer Rundfunk 2023

BR-KLASSIK präsentiert Konstantin Krimmel

"Der Vogelfänger bin ich ja"

Stoned mit Mozart

Szene aus "Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper (Oktober 2023) | Bildquelle: W. Hösl Konstantin Krimmel als Figaro und Louise Alder als Susanna | Bildquelle: W. Hösl Unter den Solisten bezauberte Avery Amereau in der Hosenrolle des Cherubino am meisten mit ihrer herrlich jugendfrischen, verspielten Stimme. Viel Beifall auch für Elsa Dreisig als leidgeprüfte Gräfin und Huw Montague Rendall als Graf Almaviva. Beide sind wunderbare Komödianten, stimmlich wie darstellerisch, und gingen emotional voll ins Risiko, wie es Mozart gebührt. Dagegen wirkten Konstantin Krimmel als Figaro und Louise Alder als seine angebetete Susanna etwas weniger präsent in dieser tolldreisten Szenerie. Kann sein, dass das am poetischen Part lag, der ja mehr lyrischen Ausdruck verlangt als die Kraftmeierei des hier vorgeführten Adels. Dazwischen Dorothea Röschmann als Wonneproppen Marcellina, die mit ihrem mütterlichen Charisma und pompösen Outfits sofort zum Mittelpunkt der Riesenbühne wurde. Insgesamt ein schwer überdrehter Mozart-Abend mit Slapstick-Elementen und ganz viel Konfetti. Halb so lang wäre es die ideale Silvestervorstellung, so mutete es eher an wie eine leicht gedehnte Wartezeit bis zu den ersten legalen Joints. Stoned mit Mozart, hat doch auch was!

Klicktipp

Ein ausführliches Dossier zum Thema "500 Jahre Bayerisches Staatsorchester" finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 31. Oktober 2023 ab um 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (8)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.

Freitag, 10.November, 09:57 Uhr

Trazom

Stefano Montanari - Hilfe!

Dirigent Stefano Montanari ist gestern abend (09. November) nicht nur leise, sondern heftig (und zurecht) ausgebuht worden.

Ein Dirigent, der es schafft, daß das Bayerische Staatsorchester schon in der Ouverture aus der Kurve fliegt (einfach viel zu schnell) - Bläser ihre Läufe nicht nur huschen, sondern abbrechen, "Gemeinsames Spielen" beim Bayerische Staatsorchester abgeschafft wird und stattdessen das Motto gilt "Treffpunkt Schlussakkord" - ein solcher Dirigent hat Seltenheitswert.
Ihm wäre auch zu empfehlen, die Recitative (die er selbst begleitet) einfach nochmal zu üben. Dann würde er nicht so unfassbar oft und deutlich daneben hauen.

Und wer es schafft, in den großen Arien des Figaro (die zu dem größten gehören, was unsere abendländische Kultur so hervorgebracht hat) die Tempi so schnell zu nehmen, daß selbst die phantastischen Sänger dieser Aufführung ihre Kolloraturen nicht aussingen, nicht auf dem Punkt sind ("Treffpunkt Schlussakkord") - der gehört nicht an dieses Pult.

Samstag, 04.November, 11:07 Uhr

Gufo

Figaro

Das unsägliche Regietheater mit seinen egozentrischen, sich selbst titanengleich sehenden Regisseuren wäre zu ertragen, wenn es wenigstens Alternativen gäbe. Doch die sind in der heutigen Opernwelt fast noch dünner gesät als der berühmte Sechser im Lotto.Der sich selbst avantgardistisch sehende Teil des Publikums applaudiert , ohne das Dargebotene kritisch zu hinterfragen. Der andere Teil hat ermattet offensichtlich resigniert. Und die staatlichen Subventionen geben den" Regieheroen" den begehrten Freibrief.

Mittwoch, 01.November, 07:59 Uhr

Trappe

Wenn die Oper und das Theater so weitermacht, hinterfragt man schon, ob man noch ins Theater soll. Die erste Herangehensweise scheint zu sein, wie man das Stück in die Gegenwart transportieren kann, wie man es politisieren kann. Damit tritt eine Entfremdung ein. Die Selbstprofilierung der Regisseure wird unerträglich. Wo bleibt der künstlerisch kreative Freiraum und die Sänger und Musik wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Traurig und erbärmlich, was man heute ertragen muss. Hier war früher wirklich alles besser, die Regie und die Sänger und die Interpretation der Dirigenten.

Dienstag, 31.Oktober, 11:22 Uhr

Alexander Störzel

"Darauf eine Joint"

Herrn Oliver Kempkens,

über die Premiere kann ich nicht urteilen, da ich sie nicht sah und über Audio zeitbedingt leider nur teilweise hören.
Sie meinten sicher von der Bayreuther "Tannhäuser"-Inszenierung 2011 von Sebastian Baumgarten.
Christoph Schlingensief inszenierte 2004 in Bayreuth den "Parsifal", nie den "Lohengrin".
Diesen hatten wir in Bayreuth mit singenden Ratten von Herrn Neuenfels, am Ende sehr beliebt.
Doch nun zum Salzburger Komponisten:
Wie schön konnten wir dieses Meisterwerk in den Inszenierungen von Rennert (München) oder Ponelle (Wien) in bester Besetzung erleben.
Unvergeßlich in München 1987 unter Sir Colin Davis.
Nun ja, wir müssen in die Zukunft schauen.

Dienstag, 31.Oktober, 11:08 Uhr

betta abra

premiere figaro gestern

musikalisch wunderbar erzählt und gestaltet,war der Abend keine Sekunde langweilig. Das zeitgemäße Bild der Dekadenz einer überdrüssigen Gesellschaft,die nur auf dem Höhepunkt der Modeerscheinung wirtschaftlich mitnascht hat die Geschichte ebenfalls gut erzählt. Danke allen Mitwirkenden. Gerne bin ich mehrere Stunden angereist.

Dienstag, 31.Oktober, 10:08 Uhr

Ragnar Danneskjoeld

@Hr. Kempkens

Schlingensief - Lohengrin - Biogasanlage?

Dienstag, 31.Oktober, 08:07 Uhr

Oliver Kempkens

Treffende Analyse, aber nicht weit gebug

Alles in allem wirkt es wie ein Potpourri vieles Sujets aus dem Anfang der 2010er Jahre: Cannabis war ein neues gesellschaftliches Thema zwischen 2013 und 2019, sexuelle Freizügigkeit sogar ab Mitte der 2000er. Man erinnere sich: Schlingensief hat 2011 eine Biogasanlage beim Lohengrin installiert. Ein Sujet, was seinerzeit zeitgemäß war und seit der Grünen Transformation immer moderner wurde. Titov nutzte die Vergangenheit. Fraglich bleibt: wissentlich, oder der Zielgruppe des Münchener Publikums entsprechend. Doch egal warum, beide Motive sind eher schwach.

Dienstag, 31.Oktober, 07:59 Uhr

Ralf Pauli

Mozart

Hatte Buhrufe erwartet. Das Publikum schien ermattet zu sein. Nur: Warum wurde die Loy-Inszenierung abgelöst? Da fallen mir andere Inszenierungen ein, die mehr Staub angesetzt haben, ohne dass sie museal wären.

Mehr zum Thema

Neu bei BR-KLASSIK

    AV-Player