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Kritik: Verdis "Simon Boccanegra" als Online-Premiere an der Oper Zürich Selbstvorwürfe eines Vaters

Zu Saisonbeginn gab es im September an der Zürcher Oper 900 Besucherinnen und Besuchern im Zuschauerraum – inzwischen dürfen es gerade noch 50 sein. Dafür sind jetzt auch bei der aktuellen Premiere Chor und Orchester in großer Besetzung angetreten: im 1000 Meter von der Bühne entfernten Probenraum, aus dem per Glasfaserkabel live gestreamt wurde.

Szene aus "Simon Boccanegra" am Opernhaus Zürich | Bildquelle: Monika Rittershaus

Bildquelle: Monika Rittershaus

Mitten im Leben sind vom Tod wir umgeben. Boccanegra macht Karriere – doch im Augenblick des beruflichen Triumphs erfährt er von einer privaten Katastrophe, dem Tod der Geliebten. Ihre gemeinsame Tochter sieht er erst nach 25 Jahren wieder – und der Vater macht sich Vorwürfe, die Arme im Stich gelassen zu haben. Sein Ende besiegelt die Vergiftung eines Weggefährten, der vom Freund zum Feind mutiert.

Die Inszenierung in Bildern

Bootswrack im Zimmer

An der Oper Zürich wird die historische Renaissance-Fehde zwischen Patriziern und Plebejern von Regisseur Andreas Homoki im Gewand der heutzutage oft beschworenen 1920er-Jahre gezeigt. Eine gute Idee: Damals gab es einen vergleichbaren Umbruch nach dem Machtverlust von Monarchen und Aristokratie. Die Momentaufnahmen, die das Stück kontrastreich montiert, offenbaren Homokis genauen Blick für die einzelnen Figuren, die in ihren Nöten befangen sind. Die sich von ihren Illusionen blenden, von ihren Begierden treiben lassen. Zum Höhepunkt gerät die ohnehin grandiose, diesmal geradezu gespenstische Ratsszene, weil sie notgedrungen als Kammerspiel ohne Chor inszeniert ist. Das dient der Konzentration auf die Kontrahenten. Zumal auf den von Boccanegra zur Selbstverdammung gezwungenen Verräter Paolo (prägnant: Nicholas Brownlee). Diese dramaturgisch so wichtige Intrigantenfigur bleibt sonst oft unterbelichtet – hier nicht. Als szenisches Leitmotiv des Abends sieht man im drehbaren Türenlabyrinth des grauen Einheitsraums (raffiniert: Christian Schmidt) immer wieder ein geheimnisvolles Bootswrack. Statisten deuten stumm die schmerzliche Vergangenheit Boccanegras an - hat er seine Tochter doch als Waisenkind in der Fremde aufwachsen lassen. Dieser Staatsmann scheint daraufhin nicht allein vom Gift, vom Machtkampf zerfressen, sondern von seiner selbstzerstörerischen Reue.

Straubinger Genueser

Verdi meinte, der Boccanegra sei "eine anstrengende Partie, wie diejenige des Rigoletto, aber tausendmal schwerer als diese." Wenn Christian Gerhaher jetzt sein Rollendebüt als erster Doge von Genua gibt, spürt man erwartungsgemäß in jeder Sekunde, wie tiefschürfend er sich mit der Figur auseinandergesetzt hat. Während führende Interpreten wie Luca Salsi oder Zeljko Lucic mit rundem, vollem Ton das Ethos eines rationalen Pazifisten betonen, steht jetzt – auch stimmlich – die seelische Gebrochenheit des Menschen Boccanegra im Blickpunkt. Zum genuin lyrischen, begrenzt expansionsfähigen Bariton Gerhahers passt das ausgezeichnet. Zumal er wieder seine nahezu uferlose Schattierungskunst ausbreitet, seine Lust an intelligenter Deklamation.

Dunkel glühendes Orchester

Szene aus "Simon Boccanegra" am Opernhaus Zürich | Bildquelle: Monika Rittershaus Szene aus Simon Boccanegra | Bildquelle: Monika Rittershaus In der Partie der Tochter wirkt Jennifer Rowley demgegenüber, auf gesanglich beachtlichem Niveau, sehr konventionell gezeichnet – was sich auch von ihrem Geliebten Adorno sagen lässt, dem Georgier Otar Jorjikia. Dafür punktet Bassist Christof Fischesser, der erstmals den Fiesco singt, mit enormer Autorität. Am Pult der Philharmonia Zürich kümmert sich Generalmusikdirektor Fabio Luisi um das Unheimliche der Musik, die dunkel glühende Grundfarbe. Er weiß hörbar darum, dass die hier bevorzugte revidierte Fassung der Oper in großer Nähe zum Requiem Verdis entstand. Und ganz nebenbei hat man den Eindruck, als spiegelte das Zürcher Orchesterspiel sorgenvoll Seelenregungen, die in Pandemie-Zeiten verbreiteter sind als sonst. Mitten im Leben sind vom Tod wir umgeben.

Besetzungen und weitere Informationen auf der Website der Oper Zürich

Sendung: "Allegro" am 7. Dezember 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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