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Kritik - Oper "Sibirien" bei den Bregenzer Festspielen Düsterer Reißer

Krass und kontrastreich: Zu Unrecht war "Sibirien" lange vergessen. Das zeigt sich auch im Bregenzer Festspielhaus. In seiner Inszenierung der Oper von Umberto Giordano gelingt Regisseur Vasily Barkhatov außerdem eine berührende Analyse der russischen Gegenwart.

Szenenbild aus der Oper "Sibirien" bei den Bregenzer Festspielen 2022 | Bildquelle: Bregenzer Festspiele

Bildquelle: Bregenzer Festspiele

Fast alle Opern gehen ja "schlecht" aus, aber im italienischen Verismus um 1900 fingen sie auch schlecht an. Grund dafür: Die damals tonangebenden Komponisten hatten genug von falscher Poesie und knöpften sich lieber das echte, rabiate und gänzlich unromantische Leben vor. "Mala Vita" (1892) hieß denn auch die erste abendfüllende Oper von Umberto Giordano, "miserables Leben". Das könnte glatt der Titel dieser kurzen Ära zwischen 1890 und 1910 sein. Hauptsache authentisch. Hauptsache volksnah. Weit weg von schöngeistiger Literatur. Das ungehobelte Pathos des Alltags war angesagt, gern auch heraus geschrien, gestammelt und gebrüllt.

"Sibirien" - Giordanos Oper spielt in einem russischen Arbeitslager

Mit seinem düsteren Reißer "Sibirien" landete Giordano 1903 an der Mailänder Scala einen großen Erfolg. "Krass" wäre heutzutage wohl die zeitgemäße Beschreibung des Werks, geht es doch um eine russische Edel-Kurtisane, die ihrem Geliebten freiwillig ins Arbeitslager folgt und dort nach Jahren im Elend auf der gemeinsamen Flucht erschossen wird. Im Verismus musste es kontrastreich zugehen, auch grell, deshalb war Komponisten wie Giordano die packende Szene immer wichtiger als packende Personen.

Problem dabei: Die Stücke sind äußerst fesselnd, die Charaktere weniger, denn weil die Opern meist vergleichsweise kurz sind, bleibt wenig Zeit, die Figuren ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, ihre Konflikte glaubwürdig zu machen. In "Sibirien" stürzt die Handlung geradezu von Dialog zu Dialog, was die Oper ungemein modern erscheinen lässt. Und weil der aus Moskau stammende Regisseur Vasily Barkhatov (38) drumherum auch noch eine an Originalschauplätzen gedrehte Film-Rahmenhandlung baute, wirkte der Abend ziemlich rasant.

Realismus auf der Bregenzer Festspielbühne

Eine ältere Frau (berührend: Clarry Bartha) sucht bei Barkhatov und seinem Team nach ihrer familiären Vergangenheit, sie fliegt mit der Urne ihres verstorbenen Bruders von Rom nach St. Petersburg, fährt mit der Eisenbahn nach Sibirien und verstreut die Asche schließlich dort, wo einst die gemeinsamen Eltern im Arbeitslager waren: Auf einem tristen Spielplatz zwischen Plattenbauten. Das ist für den ins pralle Leben verliebten Verismus angemessen realistisch bebildert und vor allem hervorragend inszeniert. Als ob die inzwischen verbotene russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich um das Gedenken an die Opfer des Stalinismus kümmerte, eine Doku in Auftrag gegeben hatte. Längst sind die ehemaligen Stätten des Grauens ja verfallen, vergessen, vom Schnee ausradiert.

Ausstatter Christian Schmidt hatte in dieser Koproduktion der Bregenzer Festspiele mit dem Theater Bonn beeindruckend albtraumhafte Räume entworfen: Halb reale Schauplätze, halb Bilder aus der Erinnerung. Ein Salon aus alten Tagen, ein Archiv voller Karteikarten-Kästen und Aktenkladden, ein schäbiges Bergarbeiter-Lager am großen Strom. Wer wollte, konnte sich innerlich am großen Psychologen und Russland-Beschwörer Leo Tolstoi orientieren oder auch die Volksweisen des Komponisten Modest Mussorgsky wieder erkennen. Vermischt mit italienischem Elan ergab das eine im besten Sinne groteske Mischung.

Giordanos "Sibirien" - erst gefeiert, dann vergessen

Auch die Dramaturgie der Bregenzer Festspiele ist zu loben, stellten sie "Sibirien" doch direkt neben Puccinis "Madame Butterfly", die auf der Seebühne gegeben wird. Die "Butterfly" kam in Mailand kurz nach "Sibirien" heraus und floppte total, während Umberto Giordano kurzzeitig zum Publikumsliebling wurde. So kurvenreich ist manchmal die Operngeschichte, die erste Eindrücke im Laufe der Jahre ins genaue Gegenteil verkehrt. Inzwischen ist Puccini längst Kassenmagnet, während Giordano weitgehend vergessen ist: Sein "Andrea Chénier" jedenfalls war in der Saison 2011/12 in Bregenz schwer verkäuflich.

Viel Stoff zum Nachdenken also für das Publikum, das die nur drei angesetzten Aufführungen von "Sibirien" besucht, und viel Grund für Sängerlob, denn die Mitwirkenden machten aus ihren schwierigen und undankbaren Rollen das Beste. Die kanadische Sopranistin Ambur Braid war eine jederzeit überzeugende bußfertige Kurtisane, Alexander Mikhailov als ihr Liebhaber hatte etwas Mühe, sich ihr gegenüber zu behaupten. Scott Hendricks als skrupelloser Zuhälter Gleby dagegen trumpfte stimmlich und schauspielerisch mächtig auf.

Dirigent Valentin Uryupin (36), der am Moskauer Konservatorium Klarinette und Orchesterleitung studierte, brannte für diese selten aufgeführte Partitur - so sehr, dass er den Rhythmus zeitweise mit den Füßen stampfte. Giordano hätte soviel Feuer mutmaßlich gefallen, denn der Verismus wollte schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen bringen - und zwar mit voller Wucht. Im 20. Jahrhundert donnerte es ja dann auch ganz gewaltig.

Sendung: "Allegro" am 22. Juli ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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