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Kritik "Song of the Shank" in Wien Eine musiktheatrale Séance

Thomas Wiggins galt als komponierendes Wunderkind. Geboren wurde "Blind Tom" 1849 jedoch als Sklave in den Südstaaten. Bei den Wiener Festwochen haben George Lewis und Stan Douglas nun ein bewegendes Stück über Wiggins auf die Bühne gebracht.

Uraufführung von "Song of the Shank" bei den Wiener Festwochen | Bildquelle: Nurith Wagner Strauss

Bildquelle: Nurith Wagner Strauss

Langsam nähern sich die Wiener Festwochen ihrem Ende. Wenn man ein kleines Fazit ziehen möchte, so ist der nach dieser Saison scheidende Intendant Christophe Slagmuylder, wie man so schön – oder vielleicht auch eher banal – formuliert, angekommen. Slagmuylder holte heuer ein überreiches Panoptikum nach Wien, mit radikal gegenwärtigen, aber auch extrem experimentellen Produktionen und Formaten in sämtlichen Genres. Geniale Schauspielmacher wie etwa Simon McBurney oder Julien Gosselin sorgten für frischen Wind durch Herz und Hirn.

Zwischen Sklaverei und Komponieren

Mit dem jetzt uraufgeführten "Song of the Shank" ("Shank" bedeutet hier "Messer" oder auch "Fleisch") setzen die Festwochen hingegen ein Ausrufezeichen der besonderen, sehr gelungenen Art. Es geht um den berühmten "Blind Tom" Wiggins. In den USA ist er eine Legende, hierzulande kennen ihn wenige. Wiggins war Sklave (präziser: ein Kind von Sklaven) und dazu blind, also untauglich für wirkliche Arbeit. So hart muss man das formulieren. Seine Besitzerfamilie entdeckte aber früh sein unglaubliches musikalisches Talent. Mit drei oder vier Jahren spielte er Klavier, bald komponierte er und es begann eine Karriere, die vor allem seine Besitzer bzw. Manager reich machte und ihn bis ins Weiße Haus führte, wo er vor dem damaligen Präsidenten Buchanan spielte. Vieles in seiner Biografie bleibt hingegen verschwommen, er wurde mal mit Mozart verglichen (eine wohl eher unsinnige Idee - und zwar für beide Seiten).

Mehr Séance als biographische Erzählung

Uraufführung von "Song of the Shank" bei den Wiener Festwochen | Bildquelle: Nurith Wagner Strauss Uraufführung von "Song of the Shank" bei den Wiener Festwochen | Bildquelle: Nurith Wagner Strauss Jeffery Renard Allen schrieb einen Roman über Wiggins und verarbeitete diesen nun zu einem dichten Libretto. Entstanden ist weniger biographische Nacherzählung, denn eine Art Séance. Wiggins spricht zu uns durch die fulminante Kontra-Altistin Gwendolyn Brown, deren vokales Spektrum vom flirrenden Mezzosopran bis zum tiefen Tenor reicht, dazu spielt sich Hermann Kretzschmar fast die Klavier-Seele aus dem Leib, so extrem diffizil und zugleich überbordend klangsinnlich ist dieser Part von George Lewis komponiert. Vimbayi Kaziboni dirigiert das kammermusikalisch besetzte Ensemble Modern und muss auch hier Lewis' kompositorische Wildnis immer wieder einhegen.

Lichtlandschaften auf der Bühne

Vieles ist an diesem Abend (An-)Klage, einiges philosophische Reflektion ("Babies cry, they don't sing" / "Die Zeit singt aus den Toten") und dazu schafft der kanadische Künstler Stan Douglas eine Lichtlandschaft, die Quadrate, Kegel, Kreise immer wieder neu entfaltet, zusammenzieht, überlappt. Im Hintergrund werden Werbetafeln für das Wunderkind, aber auch Gedanken oder Bonmots projiziert, in altertümlicher Schrift, langsam vorüber wandernd.

Gwendolyn Brown steht oder sitzt im Mittelpunkt, agiert szenisch ausschliesslich durch ihren Gesang und ihre Präsenz (sie tritt im schwarzen Anzug mit Fliege auf). Schwarzblenden grenzen die knapp gehaltenen Blöcke voneinander ab.

Viel Applaus für glaubwürdiges Musiktheater in Wien

Das Achte Weltwunder (wie es im Text heißt), "half man, half amazing", wird hier in keinem Moment vorgeführt, wie es seine 'Familie' getan hat. Wiggins bekommt eine eigene Stimme, ohne diese/ihn wiederum als Sprachrohr für politisch korrektes Gutmenschentum zu benutzen. Gerade diese Form, dieses merkwürdige, denkwürdige Schwanken und Wechseln von Konkretheit zur Abstraktion, von Poesie zu Agitation (wir werden am Ende zum Kampf aufgefordert, worin dieser besteht, ist jedem ethisch veranlagten Menschen ohnehin klar) macht den Wert dieses zutiefst glaubwürdigen Musiktheaters aus. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass Lewis, Allen, Douglas, Kaziboni und Brown Schwarze sind. Nötig zu erwähnen ist freilich der ehrliche, große Applaus.

Sendung: "Leporello" am 14. Juni 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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