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Kritik: "Elektra" in Innsbruck Im Blutbad der Wahrheit

Ein gelungener und viel beklatschter Abschied: Der aus Niederbayern stammende Intendant Johannes Reitmeier beendet seine Zeit am Tiroler Landestheater mit einer fesselnden Inszenierung der blutrünstigen "Familienaufstellung" von Richard Strauss – samt Angela Denoke als ungewöhnlich anrührende Gattenmörderin Klytämnestra.

Aile Asszonyi als Elektra in Innsbruck 2023 | Bildquelle: Birgit Gufler

Bildquelle: Birgit Gufler

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Ist das eine Drohung oder eine Verheißung? "Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus", redet sich die Auftragsmörderin Klytämnestra ein und wähnt sich damit einigermaßen in Sicherheit. Aber ist das nicht eigentlich das Motto aller Menschen? Könnte irgendjemand wirklich mit der vollen Wahrheit weiterleben? Eher nicht, wussten schon die alten Griechen, denn jeder hat nun mal Geheimnisse, meist schmerzliche. Am Hof von Mykene jedenfalls haben sie sich mit der Lüge häuslich eingerichtet, was ja auch in heutigen Regierungshauptstädten vorkommen soll. Und zusammengehalten werden diese Menschen einzig und allein vom Hass, was Regisseur Johannes Reitmeier in seiner Deutung von Richard Strauss' "Elektra" am Tiroler Landestheater in Innsbruck schaurig-fesselnd bebildert.

Eine Familienaufstellung des Grauens

Schon allein das Bühnenbild von Thomas Dörfler: Ein Schwimmbad mit schwarzen Kacheln, so gruselig, dass sich kaum einer traut, den Wasserhahn zu öffnen. Und tatsächlich fließt hier deutlich mehr Blut als Wasser, frisch gezapft von Opfertieren. Auf dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, egal, wie viele Neonröhren gleißen. Reitmeier zeigt eine 100-minütige Familienaufstellung des Grauens: Mutter Klytämnestra und Tochter Elektra sind längst irre geworden am ungesühnten Mord des Feldherrn und Dynastie-Chefs Agamemnon. Die Geschwister Chrysothemis und Orest torkeln wie Kriegsversehrte durchs Leben, orientierungslos, fassungslos, antriebslos. Die Lüge hat sie alle zerfressen, für die Wahrheit fehlt ihnen längst die Kraft. Deshalb ist Orest hier auch nicht, wie sonst oft zu sehen, der unerschrockene Rächer der Familienschande und Muttermörder, sondern ein gepeinigter, getriebener Veteran, den es nur noch ekelt vor der Welt.

Beeindruckende Darstellung mit Feingefühl

Und Elektra? Die ist an ihrer Trauerarbeit zerbrochen, sinnt Tag und Nacht auf Rache und übersieht dabei, dass der Blutdurst zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden ist. Ohne Hass kann ihr Herz nicht weiterschlagen. Großartig, wie die estnische Sopranistin Aile Asszonyi die Titelpartie verkörperte – ebenso beeindruckend wie neulich in Frankfurt. Da steht eine Frau auf der Bühne, die wirklich mit Blicken töten kann, die bei Bedarf in einer Sekunde vom Wutgeheul zum Schmeichelton findet. Der begeisterte Applaus für diese Ausnahmekünstlerin ging deshalb vollkommen in Ordnung. Aber auch ihre Gegenspielerin, Angela Denoke als Klytämnestra, lieferte ein beeindruckendes Rollenporträt ab. Es war mal keine Karikatur einer Furie, sondern eine platinblonde Führungskraft, die nicht kapiert, warum sich Schuldgefühle nicht managen lassen wie alles andere. Ja, diese schlaflose Entscheidungsträgerin hat sogar Mitgefühl verdient, so skrupellos, wie sie auch ist.

Leisere Töne in einem monströsen Werk

Elektra in Innsbruck | Bildquelle: Birgit Gufler Blutiges Schauspiel auf der Bühne des Landestheaters Innsbruck. | Bildquelle: Birgit Gufler Faszinierend auch die Charakterprofile von Magdalena Hinterdobler als Chrysothemis mit geradezu vulkanischen Herzensergießungen und Andreas Mattersberger als zerquältem Orest. Richard Dünser hatte die Riesen-Partitur von Richard Strauss für die begrenzten Möglichkeiten des Tiroler Landestheaters eingerichtet. Wer die Oper von Einspielungen kennt, mag sich über die vergleichsweise sängerfreundliche verminderte Lautstärke gewundert haben. Das war jedoch für die Textverständlichkeit ein Gewinn. Zumal es Dirigent Lukas Beikircher nicht auf einen expressionistischen Tobsuchtsanfall anlegte, sondern streckenweise fast schon zartfühlend an dieses bekanntermaßen monströse Werk heranging, das musikalisch ganz anders strahlt als Strauss' berühmte "Alpensinfonie" oder sein Oboenkonzert.

Abschied von Intendant Johannes Reitmeier

Ein in jeder Hinsicht berührender Abschied von Intendant Johannes Reitmeier aus Innsbruck. Den Niederbayern zieht es zurück in seine Heimat Kötzting in der Oberpfalz. Er wird in den nächsten Jahren als Gastregisseur arbeiten, zunächst in Taiwan, wo er den "Freischütz" inszeniert, aber wohl auch am Landestheater Niederbayern, wo er selbst mal Chef war. Zu seinen Erfahrungen in Innsbruck sagt er, die Tiroler seien treue Theaterfans, wollten aber erst mal emotional erobert werden: "Die Tiroler haben eine große Affinität zur Kultur, habe ich festgestellt, sie haben ein eher traditionelles Kulturverständnis. Für zeitgenössische Formate muss man vielleicht mehr um Verständnis werben. Nichtsdestotrotz gibt es hier auch zeitgenössische Festivals, insofern muss ich das relativieren."

Überglücklich sah Reitmeier im Schlussapplaus aus, auch gänzlich unbeschwert nach zehn Jahren Intendanz – obwohl pandemiebedingt nicht alle Blütenträume reiften. So hätte er noch gern die Bauernkriegs-Oper "Mathis der Maler" von Paul Hindemith inszeniert. Ist doch beruhigend, dass der 60-jährige nach so vielen Jahren am Theater noch Wünsche hat!

Sendung: "Allegro" am 12. Juni 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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