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Neville Marriner zum 100. Geburtstag Mit Nonchalance ans Ziel

Seinen Ruhm verdankt er auch der Tonträgerindustrie: Seit Herbert von Karajan hat kaum ein Künstler so viele Schallplatten und CDs eingespielt wie der Geiger und Dirigent Sir Neville Marriner. Den Großteil produzierte er mit seinem weltbekannten Ensemble Academy of St Martin in the Fields, das er 1958 mitgegründet und 53 Jahre lang geleitet hat. Aus dem Geigenspiel als Primarius unter Gleichgesinnten entwickelte sich Marriners Dirigenten-Karriere ganz organisch. Renommierte Orchester in Europa und den USA holten den versierten Allrounder gern ans Pult. Ein Porträt zum 100. Geburtstag.

Dirigent Sir Neville Marriner, 2014 | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Vivaldis "Vier Jahreszeiten", aufgenommen 1969 in London, waren der Volltreffer – ein künstlerischer und endlich auch kommerzieller Erfolg für Neville Marriner und seine Academy of St Martin in the Fields. Davor musste die Truppe allerdings eine zehnjährige Durststrecke überwinden. Denn die improvisierten Barockkonzerte, die man nach der Abendandacht in der gleichnamigen Londoner Kirche gab, fanden damals noch wenig Echo. Das Publikum war dünn gesät in dem imposanten Bau am Trafalgar Square, die Konzerte der Academy wurden nur selten in der Presse besprochen. Die Anfänge waren hart – umso verdienter dann der Erfolg, den Marriner mit seinem Ensemble weltweit errang.

Mit der Geige fängt alles an

Bis zu diesem Wendepunkt leitet Sir Neville Marriner sein Kammerorchester noch vom ersten Geigenpult aus. Denn Marriner, geboren am 15. April 1924 im ostenglischen Lincoln, lernt schon früh Geige. Mit 25 Jahren wird er Violin-Professor am Royal College of Music in London, wo er vorher selbst studiert hat. Sein Geld verdient er als Mitglied großer Londoner Orchester. 1958 überredet er einige unzufriedene Kolleginnen und Kollegen vom London Symphony Orchestra mit ähnlichen künstlerischen Vorstellungen, ein eigenes Ensemble zu gründen, geprobt wird noch in seinem Wohnzimmer – die Academy of St Martin in the Fields war geboren.

Neue Impulse für die Barockmusik

Am Anfang steht die Wiederbelebung der Barockmusik, der Marriner mit seinem lebendigen, klangsinnlichen Zugriff neue Impulse gibt – ohne jüngeren Kollegen wie Roger Norrington, John Eliot Gardiner oder Trevor Pinnock auf ihrem Forschungsweg in Richtung historischer Aufführungspraxis nachzueifern. Vielmehr kultiviert Marriner einen unbekümmert frischen, kammermusikalisch durchhörbaren Musizierstil – gerade auch bei Mozart, wie er in einem Radio-Interview bekennt: "Alle Mitglieder der Academy entwickelten in den ersten beiden Jahren, in denen wir nur zum Vergnügen spielten, unsere eigene Vorstellung davon, wie Mozart zu klingen habe. Ich denke, das war für jeden ein sehr individueller Prozess. Es war nicht so, dass wir konkrete Vorbilder besaßen und darunter gelitten hätten. Der damalige Mozart-Stil zeigte uns vielmehr, wie wir nicht klingen wollten."

Sir Neville Marriner auf BR-KLASSIK

Am 15. April 2024 wäre Neville Marriner 100 Jahre geworden. BR-KLASSIK erinnert in mehreren Sendungen an den Dirigenten: Im "Opernabend" am 13.4.2024 ab 19:05 Uhr. Und am Geburtstag (15.4.) selbst in der Sendung "Der Vormittag" ab 10.05 Uhr sowie in "Klassik-Stars" ab 18.05 Uhr.

Nach Durchbruch mit Vivaldi-Hit Repertoire-Erweiterung

Sir Neville Marriner | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bildquelle: picture-alliance/dpa Nach dem Vivaldi-Bestseller fängt Marriner zu dirigieren an, auch um das Repertoire der Academy zu erweitern – gelernt hatte er das vor allem bei den legendären Sommerkursen, die der französische Altmeister Pierre Monteux im US-Bundesstaat Maine gab. Und natürlich hat sich Marriner als Orchestermusiker in London auch viel von großen Gastdirigenten wie Arturo Toscanini, Herbert von Karajan, Josef Krips, Antal Doráti oder Carl Schuricht abgeschaut. Mit der Erweiterung des Repertoires expandiert auch die Besetzung der Academy of St Martin in the Fields. Da Marriners Projektorchester ohne staatliche Unterstützung auskommt, herrscht in der Academy so eine Art Hire and Fire-Mentalität, wie er in einem Zeitungs-Interview einräumt: "Unsere Musiker werden genauso bezahlt wie andere – mit der einzigen Ausnahme, dass wir ihnen keinerlei Sicherheit bieten. Spielen sie schlecht, müssen sie gehen. Spielen sie gut, musizieren sie vielleicht über viele Jahre mit uns." Auch nach Marriners Tod 2016 setzt die Academy of St Martin in the Fields unter ihrem Künstlerischen Leiter Joshua Bell und dem Ersten Gastdirigenten Murray Perahia ihre Erfolgsgeschichte fort.

VOM GEIGENPULT AUFS DIRIGENTENPODEST

Seit den 1970-er Jahren profiliert sich Marriner immer stärker als Gastdirigent am Pult anderer Orchester, bei der Dresdner Staatskapelle oder beim Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Beim Los Angeles Chamber Orchestra und beim Minnesota Orchestra übernimmt er feste Positionen; in den 1980-er Jahren erlangt er als Chefdirigent des damaligen Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart bei uns größere Bekanntheit. Seine Leidenschaft fürs Dirigieren sei einfach daraus erwachsen, sagt er, dass er sich ein umfassendes Repertoire erarbeiten wollte – und das geht nun mal nur mit größeren Orchestern.

Verschlankter Mozart

Wenn Marriner bei einem für ihn neuen Orchester ans Pult tritt, versucht er erstmal herauszufinden, was von den Musikerinnen und Musikern selber kommt. "Es gibt einige Stilfragen, auf denen ich bestehe – aber im Allgemeinen kommt schon der eigene Charakter eines Orchesters heraus. Denn natürlich ist der Chefdirigent derjenige, der dem Orchester seinen Stil aufprägt – deswegen versuche ich da nicht zu sehr einzugreifen. Aber auf gewissen Dingen bestehe ich, zum Beispiel auf der Klarheit der musikalischen Struktur. Die landläufigen Mozart- und Haydn-Aufführungen sind mir oft zu dicht, zu dick aufgetragen. Ich bevorzuge da einen leichteren Ansatz. Und weil ich Geiger bin, ist es nicht so schwer, die Streicher für eine andere Artikulation zu begeistern."

Größter Erfolg mit Film: "Amadeus"

Drei Tage nach seinem letzten Konzert 2016 stirbt Neville Marriner mit 92 Jahren in London. Marriner war ein echter Sir, dessen Markenzeichen der weiße Rollkragenpulli unterm Sakko war. Aber der Allrounder war vor allem ein King auf dem Tonträgermarkt. Auf über 600 Schallplatten und CDs hat er im Lauf seiner langen Karriere um die 2.000 Werke eingespielt – ein riesiges Repertoire von Bachs Brandenburgischen Konzerten und Ouvertüren bis zu spätromantischer und neuerer britischer Musik. Nur die großen Brocken von Bruckner, Mahler oder Schostakowitsch überließ er lieber anderen – dazu war Marriner dann doch zu sehr dem kammermusikalischen Ideal des "Primus inter Pares" verpflichtet. Herausragend aus seiner rekordverdächtigen Diskografie sind seine funkensprühenden Studioproduktionen der Rossini-Opern "La Cenerentola", "Il barbiere di Siviglia" und "Il turco in Italia" mit der Academy und den Sängerstars der Zeit. Dasselbe gilt für Marriners Da Ponte-Trilogie, sein leichtfüßiger Mozart-Stil mit der wendigen Academy überzeugte auch Alfred Brendel, alle großen Klavierkonzerte von Mozart mit Marriner und seinem Ensemble einzuspielen. Und schließlich sorgt vor allem eine Mozart-Aufnahme für Marriners Nachruhm: Der Soundtrack zu Miloš Formans Biopic "Amadeus".

Sendung: "Der Vormittag" am 15. April 2024 ab 19:05 Uhr

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