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Dirigentin Oksana Lyniv im Interview Ob Frau oder Mann – am Pult bist du allein

Ein alter Professor prophezeit der jungen Oksana Lyniv eine große Zukunft, als er sie zum ersten Mal am Dirigierpult sieht. Lyniv ist überrascht: Sie weiß noch nicht, dass eine Frau ein Orchester dirigieren darf. Zum Internationalen Frauentag hat BR-KLASSIK mit der Chefdirigentin der Oper Graz über Chancen und Tabus ihres wunderbaren Berufs gesprochen.

Dirigentin Oksana Lyniv | Bildquelle: © Oleg Pavlyuchenkiy

Bildquelle: © Oleg Pavlyuchenkiy

BR-KLASSIK: Sie stammen aus einer Musikerfamilie und haben bereits mit vierzehn Jahren Ihr musikalisches Vorstudium im ukrainischen Lwiw begonnen. Wann haben Sie den Wunsch verspürt, das Dirigieren zum Beruf zu machen?

Oksana Lyniv: Ich hatte während des Studiums die Gelegenheit, ein Studentenorchester dirigieren zu dürfen. Nach dem Konzert gab es aus dem Publikum sehr positive Rückmeldungen. Man legte mir ans Herz, am Dirigieren dranzubleiben. Ein sehr alter Professor kam zu mir und meinte: "Sie sind vielleicht kein Toscanini, aber Sie haben eine große Zukunft vor sich." Diese Rückmeldungen kamen für mich überraschend. Es war mir neu, dass Frauen überhaupt dirigieren dürfen. Ich habe mich daraufhin für das Studium angemeldet.

Ich habe gespürt, dass ich ans Pult gehöre. Ich wollte es riskieren.
Oksana Lyniv

BR-KLASSIK: Wie hat Ihre Familie auf die Entscheidung reagiert?

Oksana Lyniv: Meine Familie hat mich gefragt, was ich mir denn da in den Kopf gesetzt habe. Dirigieren –  das sei doch kein Beruf für Frauen. Meine Mutter war Lehrerin in der Musikschule. Vier Tage pro Woche war sie in der Arbeit, an den übrigen Tagen zu Hause bei der Familie. Mein Vater hielt das für ideal. Außerdem gab es in der Ukraine damals nur wenige professionelle Orchester. Die Stellen der Chefdirigenten wurden alle unter der Hand vergeben, es gab keine öffentlichen Ausschreibungen. Alles was zählte, waren Beziehungen und Schmiergelder. Mein Vater wusste das und wollte mir diese Aussichtslosigkeit ersparen. Ich habe aber gespürt, dass ich ans Pult gehöre. Ich wollte es riskieren.

BR-KLASSIK: Welche Voraussetzungen muss eine Dirigentin erfüllen?

Oksana Lyniv: Sie muss es schaffen, Leistung auf den Punkt zu bringen – unabhängig davon, was noch vor fünf oder zehn Minuten passiert ist. Die ständigen Flugreisen sind stressig, manchmal fühlt man sich körperlich nicht fit. Eine Vorstellung abzusagen, wie das bei Instrumentalisten manchmal vorkommt, ist trotzdem ein völliges No-Go. Gerade bei komplexen Produktionen ist der Dirigent nicht ersetzbar. Diese innere Disziplin muss wie auf Knopfdruck abrufbar sein.

Oksana Lyniv – zur Person

Oksana Lyniv wurde 1978 in Brody, Ukraine geboren. Sie stammt aus einer Musikerfamilie und studierte Dirigieren in der Klasse von Bogdan Dashak an der Musikakademie Lwiw. Bereits zu Studienzeiten machte Dashak sie zu seiner Assistentin. Es folgte ein Studium an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden. Von 2008 bis 2013 war sie als stellvertretende Chefdirigentin am Akademischen Nationaltheater Odessa engagiert, von 2013 bis 2017 assistierte sie Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. Es folgten Debüts am Gran Teatre del Liceu Barcelona, an der Deutschen Oper Berlin und an der Württembergischen Staatsoper in Stuttgart. Seit der Spielzeit 2017/18 ist Lyniv Chefdirigentin an der Grazer Oper. Für 2020 sind Debuts an der Berliner Staatsoper, bei der Staatskapelle Berlin und bei den Münchner Philharmonikern geplant.

BR-KLASSIK: Am 8. März ist Internationaler Frauentag – wie feiern Sie den Tag?

Oksana Lyniv: In der Sowjetunion war der Frauentag ein riesiges Fest, ich habe ihn geliebt. Die Jungen aus der Klasse haben für die Mädchen Geschenke vorbereitet und auf den Schulbänken verteilt – Sträuße aus Frühlingsblumen oder andere Kleinigkeiten. Das war eine sehr festliche Stimmung. Nach der Wende wollte man sich von sowjetischen Traditionen trennen. Der Frauentag wurde durch den Muttertag ersetzt. Für mich hat der 8. März aber immer noch etwas Feierliches. Man assoziiert damit einfach den Frühlingsbeginn und freut sich, dass der Winter vorbei ist.

Ich möchte Chancen aufgrund meiner Leistung bekommen – und nicht wegen irgendeiner Frauenquote.
Oksana Lyniv

BR-KLASSIK: Sie werden vermutlich in jedem Interview danach gefragt, wie es ist, als Frau in einer Männerdomäne zu arbeiten. Nervt die Frage?

Oksana Lyniv | Bildquelle: W. Hösl Dirigentin Oksana Lyniv | Bildquelle: W. Hösl

Oksana Lyniv: Überhaupt nicht! Das ist eine ganz selbstverständliche Frage. Schließlich war das über viele Jahrhunderte ein Tabu. Ich finde es sehr schön, in einer Zeit leben zu dürfen, in der auch Frauen Chancen bekommen. Allerdings möchte ich diese Chancen aufgrund meiner Leistung bekommen und nicht wegen irgendeiner Frauenquote. Ganz oben ist die Luft dünn, da zählt nur Qualität. Wenn du irgendwann am Pult stehst und anspruchsvolle Produktionen machst, musst du Leistung bringen, da kann dir keiner mehr helfen. Im Moment des Musizierens bist du alleine. Entweder du hast die Sache in der Hand oder eben nicht.

BR-KLASSIK: Aber die Chancen muss man doch kriegen.

Oksana Lyniv: Die Chancen muss man kriegen. Aber das Leben besteht nicht nur aus Chancen. Und bekommt man die Chance, dann muss man sich erst einmal selbst beweisen. Ich glaube aber, dass sich die Situation für junge Frauen am Dirigierpult in den vergangenen Jahrzehnten stark verbessert hat. Junge Studentinnen haben mittlerweile vielleicht sogar bessere Startvoraussetzungen als ihre männlichen Konkurrenten. Die Gesellschaft will anscheinend eine Ungerechtigkeit ausbessern, die es über viele Jahrhunderte gegeben hat. Ich finde, hier stimmt das Gleichgewicht aber wieder nicht. Es sollte eine Gleichberechtigung auf beiden Seiten geben.

Sendung: "Meine Musik" am 07. März 2020 ab 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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